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Ausgewählte Artikel - 2017
Rundbrief der BAG Antifaschismus - Juni 2017

Wannsee-Konferenz

Zu drei neuen Publikationen

Am 20. Januar 1942 fand in der Villa am Großen Wannsee im Südwesten Berlins eine »Besprechung mit anschließendem Frühstück« statt, zu der Reinhard Heydrich, Leiter des sogenannten Reichssicherheitshauptamtes, bereits Anfang Dezember 1941 hochrangige Beamte aller wichtigen Ministerien der Hitlerregierung sowie Vertreter der einschlägigen Dienststellen der SS eingeladen hatte. Gegenstand der Zusammenkunft, die im Protokoll als »Staatssekretärskonferenz« bezeichnet wurde, war die Frage, wie der bereits im Jahr zuvor begonnene systematische Mord an den europäischen Juden zu organisieren sei, um in möglichst kurzer Zeit die »Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa« zu erreichen. Heydrich selbst hielt das Einführungsreferat, die dazu notwendigen Zuarbeiten hatte Adolf Eichmann, der Leiter des »Judenreferats« im Reichssicherheitshauptamt, geleistet. In der anschließenden, rund einstündigen Diskussion ging es in erster Linie darum, die Zuständigkeiten für die begonnenen Deportations- und Vernichtungsaktionen zu klären und den zeitlichen Ablauf der nachfolgenden Maßnahmen abzustimmen. Etwa elf Millionen Juden aus dem gesamten deutschen Macht- und Einflussbereich in Europa, und dazu zählten im Verständnis der Konferenzteilnehmer sowohl der unbesetzte Teil Frankreichs als auch das nach wie vor unbesiegte Großbritannien, sollten noch vor dem Kriegsende »in den Osten evakuiert« und dort einer »Sonderbehandlung« unterzogen, also ermordet werden.

Den 75. Jahrestag der Wannsee-Konferenz haben mehrere Verlage zum Anlass genommen, sich mit neuen Büchern auf unterschiedliche Weise dem Thema zu nähern.

Bereits im Spätherbst vergangenen Jahres erschien im Berliner verlag am park das Buch von Kurt Pätzold »Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942«, das schon deshalb bemerkenswert ist, weil es das letzte Buch des international renommierten Faschismusforschers ist, der wenige Tage nach Fertigstellung des Manuskripts am 18. August 2016 im Alter von 86 Jahren in Berlin verstarb.

Für Pätzold, der der  Konferenz selbst nur wenige Seiten widmete, war es zeitlebens wichtig, den »Holocaust« (ein Begriff, den er wegen seiner Eindimensionaliät ablehnte), in die Gesamtpolitik des Naziregimes einzuordnen und ihn – ungeachtet seiner Singularität – als integralen und notwendigen Teil des Herrschaftssystems des deutschen Faschismus zu erkennen. Deshalb seine Feststellung: »Den Holocaust als einen ›Rückfall in die Barbarei‹ vergangener Jahrhunderte anzusehen, verortet das Geschehen falsch. So stark die Geschichte der nazistischen Judenverfolgungen an Vorgänge früherer gesellschaftlicher Systeme erinnern mochte - sie entsprang ursächlich den gegenwärtigen Zuständen und orientierte sich auch an ihrem Endpunkt auf Zukunftsvisionen, nicht an Vergangenheitsbildern aus voraufklärerischen Zeiten.« Er erinnerte daran, dass zur Schreckensbilanz des deutschen Faschismus auch der systematische Mord an  3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen gehörte und dass auch der Tod dieser Menschen für die Umsetzung der Gesamtstrategie des Naziregimes »notwendig« war. Pätzold weiter:  »Das ›Großgermanische Weltreich‹ –  ein Staat ohne Juden und nicht nur ohne sie, sondern auch ohne andere als unbrauchbar und überflüssig geltende Menschengruppen –  war nach allen Planungen und, was Hitler angeht, auch Versprechungen an die Führer der deutschen Industrie, kein mittelalterliches, sondern ein kapitalistisches Gebilde. In ihm sollten die deutschen Arbeiter unter allen Ausgebeuteten weitaus am besten leben, belohnt für ihre Rolle als unentbehrliche Helfer bei der Auspowerung der ›Fremdstämmigen‹. […] Der Zusammenhang von Judenmord und Kapitalexistenz mit den daraus hervorwachsenden Tendenzen und Interessen ist nur aus der Analyse der tatsächlichen Bewegung und Zielorientierung des Regimes als Ganzes zu erschließen. Nur die blutigen Spuren einzelner industrieller oder Bankunternehmen zu verfolgen, vermag die Frage nach dem Warum? [deshalb] nicht zu erklären.«

Peter Longerich, der im Münchner Pantheon Verlag seine Studie »Wannseekonferenz. Der Weg zu ›Endlösung‹« herausbrachte, ist weder bereit noch in der Lage, nach den unmittelbar oder vermittelt wirkenden ökonomischen Interessen als Quelle des Massenmordes an den europäischen Juden auch nur zu fragen. Schon in seiner in weiten Teilen höchst lesenswerten Hitler-Biographie, die er im vorvergangenen Jahr vorgelegt hat, zeigt er eine beinahe panische Abneigung, auf die konkreten ökonomischen Interessen hinter den deutschen Weltherrschaftsplänen zu verweisen. Glaubt man der Darstellung von Longerich, so hatte das Hitler-Regime stets nur das Ziel, die materiellen Bedingungen für die Fortsetzung des Krieges zu sichern. Die Weltherrschaft als Selbstzweck.

Longerichs Kernaussage ist die – nicht nur für Historiker – keineswegs überraschende Aussage, dass am Wannsee nicht die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde, sondern dass es »nur« darum ging, die Modalitäten des längst begonnenen Menschheitsverbrechens auszuhandeln. Immerhin hatte schon Robert M. W. Kempner, dessen Arbeit als stellvertretender Chefankläger der USA bei den Nürnberger Prozessen die Entdeckung der einzigen überlieferten Kopie des Protokolls der Wannseekonferenz im Jahr 1947 zu verdanken ist, festgestellt: »Die Wannsee-Konferenz war eine Organisationskonferenz, die deshalb nötig wurde, weil vorher manches von den einzelnen Ressorts individuell bearbeitet worden war – es sollte eben koordiniert werden.« In der bereits erwähnten Hitler-Biografie stellt Longerich ausführlich dar, dass es zum Führungsstil Hitlers gehörte, durch die Übertragung unklarer und sich überschneidender Zuständigkeiten seinen Herrschaftsapparat unter ständiger Kontrolle zu halten. Implizit macht Longerich deutlich, dass es das Anliegen Heydrichs war, durch die Einberufung der Wannsee-Konferenz und die Festlegungen im Protokoll für klare Verantwortlichkeiten zu sorgen und so »Reibungsverluste« zu vermeiden.  

Longerichs Verdienst besteht darin, dass er eine sehr kompakte und gut lesbare Darstellung der Wannsee-Konferenz vorgelegt hat und dass er in seinem Buch deutlich macht, dass die Vernichtung der europäischen Juden – trotz unterschiedlicher Auffassungen über die Details – stets ein gemeinsames und verbindendes Ziel des Spitzenpersonals des Hitler-Regimes war. Insofern ist die persönliche Rivalität zwischen dem »Reichsführer SS« Heinrich Himmler und dem Chef des Reichssicherheitshauptes Reinhard Heydrich, aus der heraus, so die von Longerich vertretene These, Heydrich im Dezember 1941 die Initiative zur Einberufung der sogenannten Staatssekretärskonferenz ergriff, nur von sekundärer Bedeutung.

Einen anderen Zugang wählten Hans-Christian Jasch und Christoph Kreutzmüller, die als Herausgeber im Metropol Verlag Berlin das Buch »Die Teilnehmer. Die Männer der Wannsee-Konferenz« veröffentlicht haben. Mit den biographischen Porträts aller fünfzehn Teilnehmer der Wannsee-Konferenz haben sie – aus Sicht des Rezensenten – das interessanteste der hier vorzustellenden Bücher vorgelegt. Denn die insgesamt achtzehn Autorinnen und Autoren, unter ihnen mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstätte »Haus der Wansee-Konferenz«, beschränken sich nicht darauf, die Rolle ihrer Protagonisten bei der Durchführung des Massenmordes an den europäischen Juden zu beschreiben. Sie erkunden deren Lebenswege seit den Anfängen des politischen Engagements in den Jahren der Weimarer Republik und machen so deutlich, warum diese fünfzehn Männer – in der Mehrzahl hochgebildet und sozial etabliert – schließlich bereit waren, als hochrangige Vertreter der Nazi-Diktatur aktiv an der Planung, Organisation und Umsetzung millionenfachen Mordes mitzuwirken. Gewollt oder ungewollt widerlegen die Autorinnen und Autoren mit ihrer Darstellung die dümmliche These einer Hanna Arendt von der »Banalität des Bösen«, die objektiv betrachtet lediglich eine Verharmlosung des deutschen Faschismus ist.

Insbesondere in dem Kapitel über Gerhard Klopfer, Vertreter der »Parteikanzlei«, das nicht zufällig den Titel »Völkischer Ideologe und Bürger der Bundesrepublik« trägt, wird deutlich, dass die Justiz der Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt an einer wirksamen strafrechtlichen Verfolgung der Täter interessiert war und dass alle Möglichkeiten genutzt wurden, die Urteile alliierter Gerichte zugunsten der Täter zu revidieren. Auch die Tatsache, dass die Witwe von Hitlers Blutrichter Roland Freisler zeitlebens eine hohe »Ausgleichsrente« erhielt und dass das entsprechende Gesetz erst nach ihrem Tod 1997 geändert wurde, findet angemessene Erwähnung.

Einige wenige kritische Bemerkungen sind notwendig: In dem Bericht über Martin Luther, zwischen 1941 und 1943 Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, wird zwar zutreffend auf den gescheiterten »Putschversuch« gegen Reichsaußenminister Ribbentrop und die anschließende Gefangenschaft Luthers als privilegierter Häftling im KZ Sachsenhausen verwiesen. Doch fehlt jeder Hinweis, dass Luther das Kriegsende überlebt hat. (Auch wenn er in den ersten Tagen des Nachkriegs an den Folgen einer Herzattacke starb.) Wichtiger noch wäre die Feststellung gewesen, dass Luther wegen seiner Verhaftung 1943 als einziger Teilnehmer der Wannsee-Konferenz nicht in der Lage gewesen war, sein persönliches Archiv zu »säubern«, und dass nur so sein Exemplar des Protokolls der Wannsee-Konferenz, die einzige erhaltene Kopie, die Zeiten überstanden hat.

Und: Die Herausgeber haben ihrem Buch ein umfangreiches Literaturverzeichnis beigegeben, das allerdings nicht zwischen zeitgenössischen Quellen und Dokumenten einerseits und Publikationen und geschichtswissenschaftlichen Arbeiten aus der Nachkriegszeit andererseits unterscheidet. So taucht zum Beispiel der spätere Chef des sogenannten Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich mit einem Aufsatz über »Bekämpfung der Staatsfeinde« aus dem Jahre 1936 »gleichberechtigt« neben dem stellvertretenden Nürnberger Chefankläger Robert M. W. Kempner und dessen Lebenserinnerungen »Ankläger einer Epoche« aus dem Jahre 1983 auf. In einer – wünschenswerten – Neuauflage sollte das geändert werden.

Es bleibt abschließend festzuhalten, dass sich sämtliche Autorinnen und Autoren, selbstverständlich mit Ausnahme von Kurt Pätzold, davor scheuen, den deutschen Faschismus als das zu bezeichnen, was er war, nämlich Faschismus, sondern ihn – dem Zeitgeist folgend – regelmäßig mit dem Begriff »Nationalsozialismus« verharmlosen.

  • Kurt Pätzold, Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942, verlag am park, Berlin 2016, 141 Seiten
  • Peter Longerich, Wannseekonferenz. Der Weg zu ›Endlösung‹, Pantheon Verlag, München 2016, 224 Seiten
  • Hans-Christian Jasch und Christoph Kreutzmüller (Herausgeber), Die Teilnehmer. Die Männer der Wannsee-Konferenz, Metropol Verlag, Berlin 2017, 336 Seiten

Letzte Änderung: 7. März 2019