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Ausgewählte Artikel - 2015
Disput - August 2015

Zimmerwald

Vor 100 Jahren trafen sich in dem schweizerischen Bergdorf Sozialisten aus zehn Ländern, um dem Kampf für Frieden neue Impulse zu verleihen

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 war die Zweite Internationale sang- und klanglos zusammengebrochen. Die auf den internationalen Sozialistenkongressen in Stuttgart 1907, in Kopenhagen 1910 und in Basel 1912 feierlich verabschiedeten Resolutionen gegen den Krieg gerieten schnell und gründlich in Vergessenheit, die Mehrheit der Sozialdemokraten in Deutschland und anderen Ländern lief unter dem maßgeblichen Einfluss der jeweiligen Parteiführungen zu den selbsternannten »Vaterlandsverteidigern« im bürgerlichen Lager über. In Deutschland und in Frankreich stimmten die sozialdemokratischen Parlamentsfraktionen hurrapatriotisch den Kriegskrediten zu. Auch in Österreich, wo das Parlament suspendiert worden war und daher nicht über die Finanzierung des Kriegs beschließen musste, schwor die sozialdemokratische Parteiführung die Mitgliedschaft nachdrücklich auf einen strikten Kriegskurs ein.

Doch trotz dieser dramatischen Entwicklungen gab es selbst in Deutschland hoffnungsvolle Zeichen des Widerstandes gegen den Krieg. So hatte sich noch im August 1914 auf Initiative Rosa Luxemburgs eine kleine Schar von Kriegsgegnern zusammengefunden und sich als Oppositionsbewegung innerhalb der SPD, als »Gruppe Internationale«, konstituiert. Am 2. Dezember 1914 stimmte Karl Liebknecht im Reichstag gegen weitere Kriegskredite. Am 18. März 1915 schließlich gab es in Berlin die erste öffentliche Kundgebung gegen den Krieg: Vor dem Reichstag protestierten rund fünfhundert Frauen gegen den kriegsbedingten Anstieg der Lebensmittelpreise.

Ähnliche Entwicklungen vollzogen sich auch in anderen europäischen Ländern. So sprach sich in England die Independent Labour Party klar gegen den Krieg aus. In Russland waren es nicht nur die Bolschewiki, die ein Ende des Völkermordens forderten, sondern auch Teile der Menschewiki, die sich programmatisch nunmehr als Menschewiki-Internationalisten bezeichneten. Und in Italien musste Benito Mussolini die Sozialistische Partei verlassen, weil er die Kriegsteilnahme seines Landes befürwortete.

Im Frühjahr 1915 entstand daher die Idee, die Kriegsgegner in den sozialdemokratischen Parteien zu einer gemeinsamen Konferenz einzuladen. Der Schweizer Politiker und Publizist Robert Grimm, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Arbeiterbewegung des Alpenlandes, übernahm es, die Einladungen zu versenden und die organisatorischen Vorbereitungen zu treffen.

Um die Zusammenkunft vor der Schweizer Polizei geheim zu halten, trafen sich die Delegierten, insgesamt 38 Frauen und Männer aus zehn Ländern - den Engländern war die Ausreise verweigert worden - , am 5. September 1915 zunächst im Volkshaus Bern. Von dort aus ging es mit mehreren Pferdekutschen in das zwei Stunden entfernte Zimmerwald, wo die eigentliche Konferenz, getarnt als Treffen einer Ornithologischen Gesellschaft, stattfinden sollte.

Die Teilnehmer der »Zimmerwalder Konferenz«, wie das viertägige Treffen bis heute genannt wird, gehörten unterschiedlichen politischen Richtungen und Strömungen innerhalb der Sozialdemokratie an. Sie waren jedoch in Wort und Tat durch ihren Widerstand gegen den Krieg verbunden. So war es auch diese Gemeinsamkeit, die den Inhalt des offiziellen Abschlussdokuments, des »Zimmerwalder Manifests«, bestimmte, das am 8. September 1915 nach langen und zum Teil erregten Diskussionen von allen teilnehmenden Delegationen beschlossen wurde. Der Erste Weltkrieg wurde als »Krieg der Kapitalisten« entlarvt, die sozialdemokratischen Parteien der kriegführenden Länder wurden aufgefordert, weiteren Kriegskrediten die Zustimmung zu versagen, allen Opfern des Krieges wurde die uneingeschränkte Solidarität zugesichert.

Einer linken Gruppe unter den Delegierten, deren Wortführer Lenin war, neben Trotzki wohl der bis heute prominenteste Teilnehmer der »Zimmerwalder Konferenz«, genügten diese Aussagen jedoch nicht. In einem Zusatzprotokoll forderten sie nachdrücklich die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Krieg zur Befreiung des Proletariats.

Als »Zimmerwalder Linke« trafen sie sich nur wenige Monate später, Ende April 1916, zu einer weiteren Konferenz, diesmal in Kiental, ebenfalls im Umland von Bern. Damit war eine Entwicklung in Gang gebracht worden, deren abschließender Höhepunkt die Gründung der Dritten, der Kommunistischen Internationale im März 1919 in Moskau war.

Letzte Änderung: 13. Oktober 2022