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Ausgewählte Artikel - 2015
[Unveröffentlicht] - Juni 2015

Eine notwendige Korrektur zur politischen Biographie von Josef Schlaffer (1891-1964)

auf der Grundlage eines zufälligen Aktenfundes im Moskauer RGASPI

Seit Mitte April 2015 sind im Internet unter www.germandocsinrussia.org zahlreiche Dokumente deutscher Geheimpolizeien und Nachrichtendienste aus den Jahren 1912 bis 1945 zu finden, die im Rahmen eines "Russisch-deutschen Projekts zur Digitalisierung deutscher Dokumente in den Archiven der Russischen Föderation", so die offizielle Bezeichnung der bilateralen Unternehmung, veröffentlicht wurden. Diese sogenannten Trophäendokumente waren nach 1945 von der Roten Armee aus Deutschland in die Sowjetunion gebracht worden und werden jetzt in den verschiedenen Föderalen Archiven der Russischen Föderation (Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), Russisches Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI) und Staatliches Militärarchiv der Russischen Föderation (RGVA)) sowie im Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation (CAMO) aufbewahrt.

Im Bestand 458 des RGASPI, und dort nachgewiesen im Findbuch 9, befinden sich u.a. Akten der Gestapo aus den Jahren 1936 bis 1938, die bislang verschollen waren bzw. als vernichtet galten. Von besonderem Interesse sind dabei die Akten 163, 164, 166 und 168, die Unterlagen zu den Ermittlungen enthalten, die die Gestapo im genannten Zeitraum gegen die beiden deutschen Kommunistinnen Elise Ewert (1886-1939) und Olga Benario Prestes (1908-1942) führte.

Einem internen Aktenvermerk der Dienststelle II 1 A der Gestapo (»Kommunistische und marxistische Bewegung und deren Nebenbewegungen«) vom 14. September 1937 ist dabei zu entnehmen, daß der vormalige kommunistische Spitzenfunktionär und Reichstagsabgeordnete Josef Schlaffer (1891-1964) tatsächlich als sogenannter V-Mann der Gestapo arbeitete.(1)

Damit bestätigen sich nach nahezu siebzig Jahren die Vorwürfe gegen Schlaffer, die 1948 und 1949 in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone gegen ihn erhoben wurden und die zu einer mehrmonatigen Untersuchungshaft und zu seinem (zeitweisen) Ausschluß aus der SED führten.

Eine umfassende politische Biographie Schlaffers liegt bisher nicht vor. Es gibt lediglich zwei knappe Darstellungen in biographischen Nachschlagewerken sowie einen biographischen Abriß von Kurt Schilde, der 2008 im »Jahrbuch für historische Kommunismusforschung« veröffentlicht wurde.(2)

Josef Schlaffer wurde am 27. März 1891 in Kallmünz bei Regensburg geboren. Er hatte vier jüngere Brüder, die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen.

Nach einer Lehre als Maschinenschlosser wurde er 1911 zur Kaiserlichen Marine eingezogen, in der er bis zum Ende des Ersten Weltkriegs diente. Während eines Matrosenaufstandes in den letzten Kriegswochen wurde er Vorsitzender eines Soldatenrates in Norddeutschland.

Bereits 1910 war er in die SPD eingetreten, 1918 schloß er sich der USPD an. Mit dem Zusammenschluß des linken Flügels der USPD mit der KPD wurde er Ende 1920 Mitglied der Vereinigten Kommunistischen Partei (VKPD). In den nachfolgenden Jahren engagierte er sich in der KPD sowie in verschiedenen »Vorfeldorganisationen« der Partei, so im Roten Frontkämpferbund und in der Roten Hilfe.

Im April 1924 wurde er in den Bayerischen Landtag gewählt und dort Vorsitzender der Fraktion der KPD. Ebenfalls im April 1924 rückte er im Ergebnis des Frankfurter Parteitags der KPD, der zu einer deutlichen ultralinken Wende in der offiziellen Parteipolitik führte, in die erweiterte Führung der Partei auf, der er in der Folge unter wechselnden Umständen etwa ein Jahrzehnt angehörte. Von September 1930 bis November 1932 war er Mitglied des Deutschen Reichstags. Im September 1932 wurde er Reichsleiter des KPD-nahen, weitgehend wirkungslosen »Kampfbundes gegen den Faschismus«.

Nach der Machtübergabe an Hitler am 30. Januar 1933 konnte Schlaffer zunächst untertauchen. Mehrere Monate lebte er gemeinsam mit dem inzwischen von seinen Genossen verfemten Herrmann Remmele in einem illegalen Quartier, was ihm nach 1945 zeitweise den Vorwurf einbrachte, den Kontakt zur »fraktionellen Gruppe Neumann / Remmele« nicht abgebrochen zu haben.(3)

Noch im Verlaufe des Jahres 1933 gelang es Schlaffer – mit Unterstützung seines Bruders –, unter einem falschen Namen ein sehr bald florierendes Geschäft mit einem von ihm erfundenen, Mehl sparenden Backpulver aufzubauen.

Nach eigenen Aussagen bemühte er sich in dieser Zeit, wieder Kontakt zur illegalen KPD herzustellen. Im Mai 1935 wurde er »bei einem etwas leichtsinnigen Besuch in meiner früheren Wohnung« von der Gestapo verhaftet.(4) Trotz eines bestehenden Haftbefehls wurde Schlaffer jedoch nach kurzer Zeit wieder aus der Haft entlassen. Kurt Schilde berichtet, daß Schlaffer »in der Folgezeit mehrmals erneut inhaftiert und jeweils wieder freigelassen [wurde]; ein letztes Mal, als er nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 von der Aktion ›Gewitter‹ erfaßt wird – nach zwei Tagen Gefängnis am Alexanderplatz ist er wieder draußen.«(5)

Im April 1945 geriet Schlaffer, der 1942 zum Luftschutz eingezogen worden war, in sowjetische Kriegsgefangenschaft.

Unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft meldete er sich bei der Führung der KPD und wurde, wie er selbst berichtete, durch Vermittlung von Franz Dahlem von der »sowjetischen Militärverwaltung [… in] Karlshorst […] beauftragt, eine neue Zentralverwaltung für die Umsiedlung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten östlich der Oder-Neiße-Linie zu bilden.«(6) In dieser Funktion – zunächst mit dem Titel Direktor, dann als Präsident der neuen Zentralverwaltung – verblieb er jedoch nur vom 15. September 1945 bis zum 15. Dezember 1945. Wegen Unzulänglichkeiten in der Arbeit seiner Behörde, für die er von der sowjetischen Militäradministration persönlich verantwortlich gemacht wurde, wurde er bereits nach wenigen Monaten wieder entlassen.

Anschließend wurde Schlaffer Direktor des Industrieverbandes Eisen und Metall des Landes Brandenburg in Potsdam und – bis zu seiner Kündigung im Sommer 1948 – Direktor der Hüttenwerke Hennigsdorf bei Berlin. In einem Bericht der ostdeutschen Kriminalpolizei vom 21. März 1949 – zu diesem Zeitpunkt war Schlaffer nach mehrmonatiger Untersuchungshaft bereits wieder freigelassen worden – wurde ihm ein denkbar schlechtes Zeugnis seiner Tätigkeit in Potsdam und Hennigsdorf ausgestellt: Schlaffer habe »auf allen Gebieten versagt«, er sei nicht »der Mensch […], für den er sich« halte. Und schließlich sei Schlaffer »ein Phantast und schlechter Organisator.«(7)

Schlaffer war am 24. August 1948 in Hennigsdorf auf Veranlassung der sowjetischen Besatzungsmacht durch die ostdeutsche Kriminalpolizei festgenommen worden. »Gründe der Verhaftung«, so berichtete der in Westberlin erscheinende »Kurier« wenige Tage später, »sind bisher noch nicht bekanntgegeben worden.«(8) Auch in der Folge wurden keine solchen Gründe öffentlich genannt.

Schlaffer blieb zunächst zwei Monate in sowjetischer Haft. Nachdem sich der Vorwurf der »Spionage« nicht erhärten ließ, wurde er den ostdeutschen Behörden übergeben, die nun ihrerseits gegen ihn ermittelten. Am 19. Januar 1949 wurde Schlaffer aus der SED ausgeschlossen, überraschenderweise jedoch am 14. März 1949, nach sechsmonatiger Untersuchungshaft, aus dem Gefängnis entlassen. Er ließ sich in Westberlin nieder, ohne sich in seinen verbleibenden Lebensjahren – er starb am 26. April 1964 in Westberlin – noch einmal politisch zu betätigen.

Acht Jahre nach seinem Parteiausschluß, im Januar 1957, wurde Schlaffer durch die Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) der SED offiziell – aber nicht öffentlich – rehabilitiert. In der Begründung wurde festgestellt: »Eine bedeutende Rolle bei seinem Ausschluß aus der Partei spielte seine Verbindung zu der fraktionellen Gruppe Neumann / Remmele im Jahr 1932. Die erneute Überprüfung des Ausschlusses ergab, daß für eine Tätigkeit oder Verbindung des Gen[ossen] Schlaffer zur Gestapo keine Beweise vorliegen. Eine in den Jahren 1948/49 wegen dieser Vorwürfe erfolgte gerichtliche Untersuchung hatte ebenfalls keinerlei Ergebnisse. Die Verbindung des Gen[ossen] Schl[affer] zur fraktionellen Gruppe Neumann / Remmele kann heute als Ausschlußgrund nicht mehr aufrechterhalten werden, da seit diesem Zeitpunkt rund 23 Jahre vergangen sind.«(9)

Durch das jetzt im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte aufgefundene Dokument liegt jedoch ein Beweis dafür vor, daß Schlaffer tatsächlich mit der Gestapo zusammenarbeitete, daß die 1948/49 gegen ihn erhobenen Vorwürfe also begründet waren und daß die Rehabilitation im Januar 1957 demzufolge zu Unrecht erfolgte.

Es ist allerdings weiterhin nicht möglich, die Kollaboration Schlaffers mit der Gestapo näher zu verifizieren, also festzustellen, unter welchen konkreten Umständen seine Tätigkeit als sogenannter V-Mann zustande kam, welchen Zeitraum sie umfaßte und vor allem welchen Umfang sie hatte, ob also durch sie konkreter Schaden für die KPD, den antifaschistischen Widerstandskampf oder gegebenenfalls einzelne Personen entstand.

Denn in dem erwähnten Dokument heißt es lediglich: »Inzwischen ist auch in Bezug auf die Ewert vertraulich durch den hier ebenfalls als V-Mann verwendeten ehemaligen Reichstagsabgeordneten Schlaffer festgestellt worden, daß ihr Ehemann Arthur Ewert vom Ekki aus nach Südamerika gesandt worden ist. Vergleiche hierzu den von Sch[laffer] selbst geschriebenen Bericht.«(10)

Arthur Ewert (1890-1959) war in den zwanziger Jahren ein wichtiger Spitzenfunktionär der KPD gewesen. Ab Herbst 1928 wurde er im Gefolge der sogenannten Wittorf-Affäre als Gegenspieler des Parteivorsitzenden Ernst Thälmann politisch kaltgestellt und schrittweise aus allen Parteifunktionen entfernt. Nach der vorzeitigen Auflösung des Reichstags im Juli 1930 verlor er auch sein Reichstagsmandat. Im Oktober 1930 entschied die Komintern in Moskau kurzfristig, Arthur Ewert als Leiter des Südamerikanischen Büros der Komintern nach Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, zu entsenden.

Elise Ewert hatte gegenüber der Gestapo wiederholt erklärt, daß die Übersiedlung nach Südamerika einen rein privaten Hintergrund gehabt habe. Nach dem Ende seiner politischen Arbeit in Deutschland sei Arthur Ewert bemüht gewesen, sich in einem anderen Teil der Welt eine neue Existenz aufzubauen. Von einem alten Bekannten aus seiner Zeit in den USA (1914-1919) habe er das Angebot erhalten, in Uruguay als »Bau- und Konstruktionsvertreter« einer in New York ansässigen Firma zu arbeiten, und er habe dieses Angebot akzeptiert.(11)

Die Tatsache, daß Arthur Ewert im Herbst 1930 von der Komintern nach Südamerika entsandt wurde, dürfte unter den Mitgliedern und Mitarbeitern des ZK der KPD und der Reichstagsfraktion der KPD mehr oder weniger ein offenes Geheimnis und Thema von parteiinternem »Tratsch« gewesen sein. Schon deshalb dürfte die Aussage Schlaffers gegenüber der Gestapo im Spätsommer 1937 keinen wirklichen Schaden angerichtet haben, zumal das Südamerikanische Büro der Komintern seit Ende 1935 de facto nicht mehr existierte.(12)

Das kann die Schuld Schlaffers im historischen Rückblick durchaus mildern, doch kann nicht bestritten werden, daß er durch seine – wenn in diesem konkreten Fall auch geringfügige – Zusammenarbeit mit der Gestapo ein Tabu gebrochen hatte, das für seine Genossen einen sehr hohen Stellenwert hatte.

Angesichts dessen ist der Umstand, daß sich Schlaffer nach seiner Freilassung und Übersiedlung nach Westberlin vollständig aus dem politischen Leben zurückzog, wohl nicht einer ihm gelegentlich unterstellten Enttäuschung über das Verhalten seiner früheren Genossen geschuldet, sondern eher dem Wunsch, keine weitere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, die zu weiteren, und dann möglicherweise erfolgreichen Ermittlungen gegen ihn hätten führen können.

Anmerkungen

(1) [II A 1, B.Nr. 2428/36], 14. September 1936, RGASPI (Moskau), Bestand 458, Findbuch 9, Akte 163, Blatt 96, Rs.

(2) Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Bd. 2, Frankfurt am Main 1969, S. 272-274; Hermann Weber und Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004, S. 662-664, sowie vor allem: Kurt Schilde, Flucht über die Balkonmauer. Politische Biographie des Kommunisten Josef Schlaffer, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2008, Berlin 2008, S. 310-318. Die nachfolgende biographischen Stichpunkte stützen sich auf diese Veröffentlichungen.

(3) Aus den Parteiunterlagen der B[ezirks]L[eitung] der Partei/BPKK, in: BStU, Archiv der Zentralstelle, Nr. 22/67, S. 247-248 (handschriftlich), so zitiert in: Kurt Schilde, a.a.O., S. 317.

(4) Schreiben Josef Schlaffers an Walter Ulbricht vom 28. Januar 1949, in: Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (im Folgenden: BstU), Archiv der Außenstelle Potsdam, KD PDM 2015, S. 56, so zitiert in: Kurt Schilde, a.a.O., S. 315.

(5) Kurt Schilde, ebenda.

(6) So zitiert bei: Hermann Weber, a.a.O., S. 273. Josef Schlaffer hatte im Jahre 1956 für Hermann Weber einen Lebenslauf verfaßt, den dieser u.a. an dieser Stelle verwendete.

(7) Bericht der Hauptabteilung K, Referat K 5, vom 21. März 1949, in: BstU, MfS AS 566/67, S. 50, so zitiert in: Kurt Schilde, a.a.O., S. 316.

(8) So zitiert in: Kurt Schilde, a.a.O., S. 317.

(9) Aus den Parteiunterlagen der B[ezirks]L[eitung] der Partei/BPKK, a.a.O.

(10) [II A 1, B.Nr. 2428/36], 14. September 1936, a.a.O. Der Bericht Schlaffers befindet sich nicht unter den jetzt zugänglichen Dokumenten.

(11) Vgl. dazu: [Aussage von Elise Ewert zur Person], 18. August 1937, RGASPI (Moskau), Bestand 458, Findbuch 9, Akte 163, Blatt 5-8, hier: Blatt 6, Rs.

(12) Zur Biographie Arthur Ewerts und zur Geschichte des Südamerikanischen Büros der Komintern siehe: Ronald Friedmann, Arthur Ewert. Revolutionär auf drei Kontinenten, Berlin 2015. (Das Buch erscheint im Herbst 2015.)

Letzte Änderung: 19. April 2016