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Ausgewählte Artikel - 2013
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform - Dezember 2013

Massenmord für das Kapital

Vor dreißig Jahren endete die Militärdiktatur in Argentinien

Am 1. Dezember 1983, vor genau dreißig Jahren, trat der linksliberale Politiker Raúl Alfonsín sein Amt als Präsident der Argentinischen Republik an. Einen Monat zuvor, am 30. Oktober 1983, hatte er sich bei den Präsidentschaftswahlen mit fast 52 Prozent der Stimmen klar gegen seinen peronistischen Mitbewerber durchgesetzt, der nur 41 Prozent erhielt. Formal endete damit die mehr als siebenjährige Militärdiktatur, die das südamerikanische Land in die tiefste politische, ökonomische und soziale Krise seiner Geschichte gestürzt hatte.

Am 24. März 1976 hatten die Militärs geputscht. Die amtierende Staatspräsidentin Isabél Peron war entmachtet und aus dem Amt gejagt worden. Der Oberkommandierende des Heeres, General Jorge Rafael Videla, hatte sich an die Spitze der neuen Regierung gestellt - eine Entwicklung, die angesichts der damaligen Lage im Land für politische Beobachter keine wirkliche Überraschung war.

Doch sehr bald wurde klar, daß es sich bei diesem Staatsstreich um keinen »gewöhnlichen« Putsch handelte. Denn das Programm der »Nationalen Reorganisation«, das sich die Militärs auf die Fahnen geschrieben hatten, beinhaltete im Grunde nur zwei Punkte: Es ging um die physische Vernichtung jeder linken oder auch nur als links deklarierten Opposition und um die bedingungslose Durchsetzung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, mit der das Land am Rio de la Plata voll und ganz den Interessen des Finanzkapitals und der großen internationalen Unternehmen »angepaßt« werden sollte.

Die neuen Herren an der Spitze Argentiniens setzten alles daran, ihr Programm in kürzester Zeit in die Tat umzusetzen. Nur Tage nach dem Staatsstreich begann der »Schmutzige Krieg« der Militärs gegen das argentinische Volk, so der bis heute geläufige Begriff. General Luciano Benjamín Menéndez, einer der maßgeblichen Putschisten, hatte vollmundig und mit erschreckender Offenheit erklärt: »Wir werden 50.000 Menschen töten müssen. 25.000 Subversive, 20.000 Sympathisanten, und wir werden dabei 5.000 Fehler machen.« [1] Innerhalb weniger Wochen entstanden landesweit mindestens 340 geheime Gefängnisse, die beim »Verschwindenlassen« von Oppositionellen eine wesentliche Rolle spielten.

Dieses »Verschwindenlassen« wurde zum wichtigsten und abscheulichsten Instrument des Terrors. Sehr schnell gehörte es in der Hauptstadt Buenos Aires, aber auch in wichtigen Städten der Provinz zum Alltag, daß PKWs ohne Nummernschild in den Straßen auftauchten und schwarzgekleidete Männer mit dunklen Sonnenbrillen aus den Fahrzeugen sprangen, die scheinbar wahllos Menschen ergriffen und verschleppten. Zu ihren Opfern gehörten Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschafter und Menschen, die lediglich im Verdacht standen, in Opposition zur Militärdiktatur zu stehen. In der Regel hörten die Freunde und Verwandten nie wieder etwas von den Verschleppten: Sie waren in den Folterkammern der Militärs »verschwunden«.

Im November 1984, ein Jahr nach dem Ende der Militärherrschaft, legte eine von Präsident Raúl Alfonsín eingesetzte »Nationale Kommission über das Verschwinden von Personen« (CONADEP) ihren Bericht vor, dem sie den Titel »Núnca más« (»Nie wieder«) gegeben hatte. Die Kommission berichtete über das Schicksal von 8.960 »Verschwundenen«, Männern und Frauen, die in den Geheimgefängnissen zunächst brutal gefoltert und dann ermordet wurden. Häufig entledigte man sich dieser Menschen, in dem man ihre Körper – lebend oder tot – aus Flugzeugen in den Rio de la Plata oder in das offene Meer warf.

Inzwischen gehen seriöse Schätzungen davon aus, daß in den Jahren der Militärdiktatur mindestens 30.000 Menschen dem Terror der Militärs und ihrer Helfer zum Opfer fielen.

Kein Protest aus Washington oder Bonn

Protest aus dem westlichen Ausland hatten die argentinischen Militärs nicht zu befürchten, im Gegenteil. Die US-Regierung in Washington, aber auch die sozialliberale Koalition in Bonn sahen die Entwicklung in Argentinien durchaus wohlwollend. Denn unter dem Wirtschaftsminister José Alfredo Martínez de Hoz, der sich mit seiner Politik in einschlägigen Kreisen sehr schnell den Namen »Der Hexer« verdiente, wurde die Ökonomie Argentiniens komplett dereguliert – mit zwei Ausnahmen: Die Löhne wurden langfristig eingefroren, die ohnehin spärlichen Sozialleistungen bis beinahe zum Nullpunkt zusammengestrichen. Öffentliche Unternehmen wurden massenhaft privatisiert, ausländische Investitionen begünstigt und gefördert. Für die großen internationalen Banken und Konzerne begannen in Argentinien goldene Zeiten.

Durch den blutigen Terror der Militärs gab es kaum Widerstand gegen den wirtschaftlichen Ausverkauf des Landes. Wenn sich doch Protest zeigte, gingen die Militärs mit aller Brutalität vor. Zu den Nutznießern zählten auch und vor allem die ausländischen - auch deutsche – Unternehmen. Überliefert ist zum Beispiel, daß 14 Mitarbeiter der argentinischen Niederlassung des deutschen Mercedes-Benz-Konzerns in den Jahren zwischen 1976 und 1983 »verschwanden«. Auf der Grundlage des »Alien Tort Claims Act« von 1789, der Ausländern bei der Verletzung internationalen Rechts den Weg zu US-amerikanischen Gerichten öffnet, ist in den USA seit Jahren eine Klage argentinischer Menschenrechtsaktivisten anhängig, die auf diesem Weg eine politische und juristische Verantwortung des heutigen Daimler-Konzerns für den Tod der 14 Mitarbeiter feststellen lassen wollen.[2]

Zum großen und weltweit bekannten Symbol des Kampfes um die Rettung der »Verschwundenen« und die Aufklärung ihres Schicksals wurden die »Mütter der Plaza de Mayo« mit ihren weißen Kopftüchern: Am 30. April 1977 versammelten sie sich erstmals auf dem zentralen Platz vor der »Casa Rosada«, dem Präsidentenpalast in der argentinischen Hauptstadt, um von da an an jedem Donnerstag ihren stillen und gewaltlosen Protest zu wiederholen. Sie forderten Auskunft über das Schicksal ihrer »verschwundenen« Kinder und aller Opfer der Militärdiktatur. Am 10. Dezember 1977 »verschwand« Azucena Villaflor de Vicenti, 54 Jahre alt, die Begründerin und erste Anführerin der Bewegung. Doch die »Mütter« hatten ihre Angst verloren. Sie setzten ihren Kampf unerschrocken fort.

Schwierige Bewältigung der Diktatur

Die Niederlage Argentiniens im Krieg um die Falklandinseln/Malwinen im Juni 1982 besiegelte das Ende der Militärherrschaft. Mit dem Ziel, durch eine massive Mobilisierung nationalistischer Stimmungen das eigene Regime noch einmal zu stabilisieren, hatte die argentinische Militärführung im April 1982 die Besetzung der Inselgruppe im Südatlantik befohlen, die unter britischer Verwaltung stand, aber seit 1833 von Argentinien beansprucht wird. Doch Großbritannien gelang es, unter Einsatz seiner vollen Militärmacht und unterstützt durch die Partner in der Nato, die Inseln unter schweren Verlusten für die argentinische Seite zurückzuerobern. Die nachfolgenden Massenproteste in ganz Argentinien zwangen die Militärs, den Weg für eine Redemokratisierung des Landes freizumachen.

Bei seinem Amtsantritt am 1. Dezember 1983 stand Staatspräsident Raúl Alfonsín vor der Aufgabe, ein tief gespaltenes Land zu einen. Dabei kam der politischen und juristischen Aufarbeitung der Diktatur eine entscheidende Rolle zu.

Tatsächlich wurden einige führende Militärs vor Gericht gestellt und verurteilt, unter ihnen General Jorge Rafael Videla, der eine lebenslange Haftstrafe erhielt. Doch bereits Ende 1986 wurde - nach nur dreiwöchiger parlamentarischer Beratung - das »Ley de Punto Final«, das »Schlußstrichgesetz«, verabschiedet, das eine nur 60tägige Frist zur Eröffnung neuer Verfahren gegen Personen vorsah, die in die Verbrechen der Militärs verwickelt waren.

Ungeachtet massiver Proteste folgte wenige Monate später ein »Gesetz über die Gehorsamspflicht«, mit dem allen Militärs bis zum Range eines Brigadegenerals zugestanden wurde, grundsätzlich nur Befehle ausgeführt zu haben. Die übergroße Mehrzahl der politisch motivierten Verbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur wurde so legitimiert, nur wenige Straftaten, darunter Vergewaltigung, Entführung von Kindern und Verbrechen zur persönlichen Bereicherung, durften weiterhin verfolgt werden.

Diese Politik der »Versöhnung« mit den Militärs setzten auch die Amtsnachfolger von Raúl Alfonsín, Carlos Menem und Fernando de la Rúa, fort. Menem ging sogar so weit, zahlreiche verurteilte Militärs zu begnadigen und mit einer Amnestie bereits laufenden Verfahren ein vorzeitiges Ende zu setzen.

Erst Néstor Kirchner, der im Mai 2003 das höchste Staatsamt Argentiniens antrat, setzte die Aufhebung des »Schlußstrichgesetzes« und des »Gesetzes über die Gehorsamspflicht« durch. Unterstützt wurde er dabei vom Obersten Gericht, das 2005 beide Gesetze für verfassungswidrig erklärte. Die von seinem Amtsvorgänger ausgesprochenen Begnadigungen wurden aufgehoben.

Seit 2010 sind zahlreiche Militärs, die in den Jahren der Diktatur Verbrechen begingen, erstmals oder erneut verurteilt worden. Doch auch 30 Jahre nach dem formalen Ende der Diktatur sind weder die politische noch die juristische Aufarbeitung abgeschlossen. Nachwachsende Generationen in Argentinien wollen wissen und verstehen, was in den sieben Jahren der Militärherrschaft zwischen 1976 und 1983 in ihrem Land geschah und warum es mehr als zwei Jahrzehnte dauerte, bis die Frage der politischen und juristischen Verantwortung für zahllose Verbrechen konkret und konsequent gestellt wurde.

Anmerkungen

[1] So zitiert in: Paul H. Lewis, Guerrillas and Generals. The »Dirty War« in Argentina, Westport 2002, S. 147.

[2] Vgl. dazu: Mord auf Bestellung? Fragen an die Menschenrechtsaktivistin Gaby Weber, in: Die Zeit, 10. Januar 2013.

Letzte Änderung: 15. Dezember 2013