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Ausgewählte Artikel - 2011
neues deutschland - 26. November 2011

Anita Prestes

Frauengeschichte(n)

Sie wurde am 27. November 1936 im Frauengefängnis in der Berliner Barnimstraße geboren. 14 Monate, während der gesamten Stillzeit, durfte ihre Mutter sie in ihrer Zelle behalten. Dann aber wurde sie ihrer Mutter im wahrsten Sinne des Wortes gewaltsam entrissen. Erst nach langen bangevollen Monaten erfuhr die Mutter, daß ihr Kind bei der Großmutter in Paris und damit in Sicherheit war. Im April 1942 wurde die Mutter von den Nazis, den deutschen Faschisten, in der vormaligen Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg als Jüdin und Kommunistin ermordet. Der Vater des Mädchen saß unterdessen viele tausend Kilometer entfernt im brasilianischen Rio de Janeiro im Gefängnis - ein Sondergericht des Diktators Getúlio Vargas hatte gegen ihn eine jahrzehntelange Haftstrafe verhängt. Das Mädchen war Anita Leocâdia Prestes, die Tochter von Olga Benario und Luis Carlos Prestes, dem Ritter der Hoffnung, der in den zwanziger Jahren als junger Offizier Führer der legendären Kolonne Prestes gewesen war.

Erst im Alter von 8 Jahren traf Anita Leocâdia ihren Vater, der im Mai 1945 durch eine Amnestie freigekommen war, zum ersten Mal. Doch das gemeinsame Glück währte nur kurze Zeit - die Kommunistische Partei Brasiliens, deren Führer ihr Vater inzwischen war, wurde verboten. Luis Carlos Prestes ging zunächst in den Untergrund, dann für viele Jahre ins Exil. In dieser Zeit war es eine Tante, eine Schwester des Vaters, die sich um das Kind sorgte.

1964 konnte Anita Leocâdia ein Studium der Chemie an der renommierten Universität von Rio de Janeiro abschließen. Doch ein Militärputsch im selben Jahr verhinderte, daß sie in ihrem Beruf Arbeit fand, obwohl sie zusätzliche Abschlüsse erwarb. Anita Leocâdia engagierte sich im Kampf gegen die Diktatur, schließlich mußte auch sie Anfang der siebziger Jahre ins Exil gehen. Auf abenteuerlichen Wegen gelangte sie nach Moskau, wo bereits ihr Vater lebte und arbeitete. Dort setzte sie ihre Studien fort und erwarb schließlich einen Doktortitel als Ökonomin und Philosophin. Unterdessen verurteilte sie ein brasilianisches Gericht in Abwesenheit zu viereinhalb Jahren Haft. Erst 1979, nach einer Amnestie, konnte Anita Leocâdia nach Brasilien zurückkehren, wo noch bis 1985 die Militärs herrschten. Schließlich begann sie eine neue Ausbildung, nun als Historikerin. Im Januar 1990, wenige Wochen vor dem Tod ihres Vaters, der am 7. März 1990 im Alter von 92 Jahren starb, erwarb sie mit einer Arbeit über die Geschichte der Kolonne Prestes einen weiteren Doktortitel. Seit 1992 lehrt sie an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro brasilianische Geschichte. Ihr großes Thema, über das sie inzwischen mehrere äußerst lesenswerte Bücher veröffentlicht hat, ist die Geschichte der kommunistischen und Arbeiterbewegung Brasiliens.

An diesem Sonntag wird Anita Leocadia Prestes 75 Jahre alt. Auch von dieser Stelle die herzlichsten Glückwünsche.

Letzte Änderung: 27. November 2011