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Ausgewählte Artikel - 2010
JahrBuch für Forschungen ...* - September 2010

Verrat. Die Arbeiterbewegung zwischen Trauma und Trauer

Rezension zu Simone Barck/Ulla Plener (Hrsg.): Verrat. Die Arbeiterbewegung zwischen Trauma und Trauer, Karl Dietz Verlag, Berlin 2009

Rund dreißig Autoren, in der Mehrzahl Historiker, liefern mit ihren Beiträgen ein vielfältiges und vielschichtiges Bild von zahlreichen Fällen unterstellten oder tatsächlichen Verrats, vor allem aber von der Instrumentalisierung des Begriffs "Verrat" in der kommunistischen und der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. (Angesichts der Fülle an Namen ist es vollkommen unverständlich und unverzeihlich, dass der Verlag auf ein Namensverzeichnis verzichtet hat.) Bei der Mehrzahl der Texte handelt es sich um – für diese Publikation bearbeitete – Beiträge zu wissenschaftlichen Tagungen zum Thema "Verrat? Fakten – Fiktionen – Folgen in der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts", die in den Jahren 2003, 2004 und 2005 vom Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung durchgeführt wurden. "Anliegen dieser Tagungen", so Ulla Plener als Hrsg. in ihrem Geleitwort, "war es, zu einer auf Toleranz und gegenseitiger Achtung gründenden politischen Kultur linker, das heißt an sozialer Gerechtigkeit, konsequenter Demokratie und dauerhaftem Frieden orientierter Kräfte beizutragen. In diesem Sinne wurde eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit einem zentralen, in der Arbeiterbewegung des 20. Jh. vielfach missbrauchten Begriff – seinen größtenteils fiktiven Inhalten und seinen für die Bewegung insgesamt und viele Tausende einzelner Menschenschicksale tragischen Folgen – geführt. Diskutiert wurden die zwei historischen Phasen 1914 bis 1945 und 1945 bis 1990 unter vorwiegend ereignis- und organisationsgeschichtlichen Fragestellungen sowie die theoretische, ethische und kulturhistorische Dimension der 'Verrats'-Geschichte. Konzentriert auf die deutsche Bewegung, schloss der Blick auch die internationale Sicht ein." (S. 4 )

Andere Beiträge wurden von den Hrsg. in der offensichtlichen Absicht aufgenommen, dem ohnehin bereits sehr breiten Spektrum der Themen weitere Aspekte hinzuzufügen. Bedauerlich ist, dass es dabei auch zu einem Missgriff wie dem Artikel von Wilfriede Otto "Mielke wollte einen 'Schulfall' inszenieren. Zu den Hintergründen der 'Säuberungen' in der SED Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre" aus dem Jahre 1990 (!) kam, der für eine Tageszeitung geschrieben wurde und mit dem die Autorin augenscheinlich eher propagandistische als wissenschaftliche Absichten verfolgte, der aber zumindest nicht den heutigen Forschungs- und Erkenntnisstand widerspiegelt: Wenn man die in diesem Artikel behandelten Ereignisse schon mit einem einzelnen Namen in Verbindung bringen will, dann sollte eher von Hermann Matern die Rede sein, der als langjähriger Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission der SED über Jahre und Jahrzehnte hinweg eine schändliche Rolle spielte.

Einen gewissen methodischen Bruch stellt der Beitrag von Volkmar Schöneburg "Strafrecht und Verrat. Eine Skizze" dar, der sich strafrechtlichen Aspekten des "Verrats" zuwendet, sich dabei aber vergleichsweise ausführlich mit dem politischen Strafrecht in der Bundesrepublik der 50er Jahre befasst.

Ein bestürzendes Beispiel Stalinscher Verfolgungspolitik lange vor den berüchtigten Moskauer Prozessen der Jahre 1936 bis 1938 liefert Sergej Shurawljow "Der Verratsvorwurf gegenüber ausländischen Facharbeitern und Spezialisten in der Sowjetunion der 30er Jahre". Am Beispiel der Ausländerkolonie des Moskauer Elektrowerks beschreibt er detailliert die Funktion des Verratsvorwurfs bei der "zielgerichteten massiven Einwirkung auf das gesellschaftliche Bewusstsein" (S. 93) in den frühen Jahren der Sowjetunion.

Angesichts der Vielzahl manipulierter Verratsvorwürfe, wie sie in diesem Buch geschildert werden, ist man – wie Ruth von Meyenburg in ihrer Autobiografie "Blaues Blut und rote Fahnen" – beinahe dankbar, dass es "doch auch echte Spione", hier also Verräter, gab: In mehreren, durchaus differenzierenden Beiträgen wird gezeigt, wie kommunistische und sozialdemokratische Widerstandskämpfer zu Werkzeugen der Gestapo wurden wie bei Siegfried Grundmann "Zwei Verräter – V-Männer der Gestapo" oder auch Werner Abel "Der Fall Maria Reese".

Die Beiträge des Buches sind grob nach Themen gegliedert: Die Rolle der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Verratsvorwürfe in der KPD der Weimarer Republik und in der Sowjetunion der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre, antifaschistischer Widerstand und Arbeit für die Gestapo, Parteisäuberungen in den ersten Jahren der SED, das Verhältnis der SPD zu SED und DDR in den fünfziger Jahren sowie einige Einzelthemen, die sich wohl nicht genauer zuordnen ließen.

Neben den zum Teil sehr speziellen Darstellungen, die den Charakter von Fallstudien haben, wird in mehreren Beiträgen versucht, zu notwendigen Verallgemeinerungen zu kommen. Zwei Beiträge bilden den Rahmen: Jürgen Hofmann "Das Trauma des Verrats in der Arbeiterbewegung" unternimmt den "Versuch einer Einführung"; Ulla Plener "Statt einer Zusammenfassung: Die zerstörende Wirkung des Verratsvorwurfs in der Arbeiterbewegung" zieht eine Bilanz. Wichtig auch Helmut Meier "Über Schwierigkeiten im Umgang mit dem Thema 'Verrat'", der konstatiert: "Es gibt wohl wenige Themen, über die sich so trefflich streiten lässt, wie über die Thematik 'Verrat und Verräter'. Wenn man bedenkt, welche Folgen der Verratsvorwurf in geschichtlichen Situationen hatte und noch hat, so lohnt es sich, darüber nachzudenken, was es sachlich damit auf sich hat, und wie damit umzugehen ist. Wessen Biografie mit der Arbeiterbewegung und insonderheit mit der kommunistischen Bewegung verbunden war, wird diesen Drang besonders verspüren; denn in ihr wurde besonders großzügig und häufig sehr willkürlich mit diesem Vorwurf umgegangen. Die verheerenden Folgen sind geschichtsnotorisch." (S. 368)

Kurz und knapp: Ein notwendiges und gutes Buch, das wichtig und empfehlenswert ist.

* JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung

Letzte Änderung: 11. November 2011