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Ausgewählte Artikel - 2008
junge Welt - 15. März 2008

Ein Dorf wird ausgelöscht

Vor vierzig Jahren ermordeten US-Soldaten mehr als 500 unbewaffnete Bewohner der südvietnamesischen Ortschaft My Lai (Son My)

In den frühen Morgenstunden des 16. März 1968, exakt um 7.22 Uhr, landeten die drei Züge der Charlie-Kompanie, die zum Bestand der elften Infanteriebrigade der US-Streitkräfte in Südvietnam gehörte, in der Nähe des südvietnamesischen Dorfes My Lai in der Gemeinde Son My. Die etwa 120 Soldaten hatten den Befehl, Angehörige des 48. Bataillons der südvietnamesischen Befreiungsfront FNL, die in dem Ort vermutet wurden, aufzuspüren und zu töten. Denn längst zählte in dem bereits seit einem halben Jahrzehnt andauernden Krieg der USA gegen das um seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpfende Vietnam nicht mehr die Fläche des eingenommenen gegnerischen Territoriums oder die Zahl der gefangenen Gegner oder erbeuteten Waffen, sondern es ging aus der Sicht der US-Administration nur noch um die Zahl der getöteten Feinde. Das Stichwort hieß »body count«, und das bestimmte die militärische Taktik - »search and destroy«, was wörtlich zu nehmen war: »suchen und vernichten«.

Daß sich in dem Dorf My Lai nicht ein einziger bewaffneter Kämpfer aufhielt, ja nicht einmal ein einziger Mann im waffenfähigen Alter, beeindruckte die auf Mord eingestellten US-Soldaten in keiner Weise: Es begann das wohl fürchterlichste Massaker in der an Grausamkeiten keineswegs armen Geschichte des Vietnam-Krieges.

Kurz nach 8 Uhr drangen zwei Züge der Charlie-Kompanie unter dem Befehl des damals 24 Jahre alten Leutnant William Calley, wild um sich schießend, in My Lai ein. Der dritte Zug hatte das kleine Dorf weiträumig umstellt, um die aus dem Ort fliehenden Menschen zu töten. Die US-Soldaten zielten auf alles, was sich bewegte. Junge Frauen und Mädchen, selbst im Kindesalter, wurden vergewaltigt und dann erschossen. Säuglinge wurden ihren Müttern entrissen und als Zielscheiben benutzt. Handgranaten wurden in die Wohnhütten geworfen, wo deren Bewohner vergeblich Zuflucht gesucht hatten. Erst nach etwas mehr als vier Stunden war das Blutbad zu Ende: Nicht weniger als 504 Bewohner des Dorfes My Lai, unter ihnen 182 Frauen und 172 Kinder, waren getötet worden. Selbst das Vieh hatten die US-Soldaten in ihrem Blutrausch abgeschlachtet. Die US-Soldaten brannten die Ortschaft nieder und verließen dann ohne eigene Verluste - lediglich ein US-Soldat war verwundet, er hatte sich selbst beim Reinigen seiner Pistole versehentlich in den Fuß geschossen - den Ort ihres Verbrechens.

Nur ein einziger US-Soldat hatte den Mut gehabt, gegen den Massenmord in My Lai vorzugehen. Der damals 24 Jahre alte Hubschrauberpilot Hugh Thompson, der mit seinem Helikopter zur Unterstützung der Bodentruppen über My Lai kreiste, landete kurzentschlossen mitten im Kugelhagel und zwang mit dem Maschinengewehr seines Hubschraubers Calley, elf Frauen und Mädchen, die dieser gerade eigenhändig erschießen wollte, freizulassen. Diese elf Frauen und Mädchen waren nahezu die einzigen Überlebenden des Massakers.

Im offiziellen Bericht allerdings war keineswegs von einem Massaker die Rede: Vielmehr wurde der Tod von 128 »vietcong«, so das bis heute auch in der bürgerlichen deutschen Presse verwendete US-amerikanische Schimpfwort für die südvietnamesischen Befreiungskämpfer, vermeldet. Der Tod von etwa 20 Zivilisten wurde als unvermeidlich dargestellt, weil diese Zivilisten sich angeblich in gegnerisches Feuer begeben hätten.

Mehr als anderthalb Jahre dauerte es, bis die Wahrheit über das Massaker von My Lai an die Öffentlichkeit gelangte. Ein Bericht von Hugh Thompson, noch im März 1968 geschrieben, war von seinen Vorgesetzten unterschlagen worden. Doch Ende März 1969 wandte sich Ronald Ridenhour, ein ehemaliger US-Soldat, in einem Schreiben an 30 Mitglieder des US-Kongresses sowie an hochrangige US-Militärs in Washington: Ridenhour hatte während seiner Dienstzeit in Vietnam bei einem Kneipengespräch mit Angehörigen der Charlie-Kompanie Einzelheiten über die Ereignisse in »Pinkville«, wie My Lai im US-amerikanischen Soldatenjargon hieß, erfahren und daraufhin begonnen, auf eigene Faust weitere Details zu recherchieren. Nach der Entlassung aus dem Militärdienst und der Rückkehr in die USA hatte er nun die Ergebnisse dieser Recherchen weitergegeben. Das Pentagon, das US-Kriegsministerium, sah sich daraufhin veranlaßt, eine offizielle Untersuchung anzuordnen.

Doch erst als Seymour Hersh, bis heute einer der einflußreichsten investigativen Journalisten in den USA, nach einem vertraulichen Hinweis aus dem Pentagon das Thema aufgriff und die »Story« an eine kleine Nachrichtenagentur gab, berichteten auch die großen Zeitungen und Magazine in den USA, zuerst am 5. Dezember 1969 das Life Magazine, dann auch die Washington Post und Newsweek, über das Massaker. In der US-amerikanischen Öffentlichkeit wurden diese Berichte zunächst mit großer Skepsis und Ungläubigkeit aufgenommen. Doch die vorliegenden Beweise ließen keinen anderen Schluß zu: Die US-Soldaten in Vietnam hatten - und wie sich sehr schnell herausstellte, nicht nur in My Lai - schwerste Kriegsverbrechen begangen. Angesichts der ständig steigenden Zahl von gefallenen und verwundeten US-Soldaten in Vietnam trugen diese Nachrichten wesentlich dazu bei, die öffentliche Stimmung in den USA kippen zu lassen: Die Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, die bis dahin nur eine vergleichsweise kleine Zahl von Aktivisten hatte mobilisieren können, erfaßte sehr bald große Teile der US-amerikanischen Bevölkerung.

Etwa zeitgleich mit den Presseveröffentlichungen begannen die offiziellen Untersuchungen des Pentagon, in deren Rahmen mehr als 400 Zeugen verhört und etwa 20000 Seite Protokolle angefertigt wurden. Der »Peer Report«, der im Ergebnis dieser Untersuchungen entstand, empfahl, 28 Offiziere, einschließlich des zuständigen Divisionskommandeurs, Generalmajor Samuel W. Koster, und des Kommandeurs der elften Infanteriebrigade, Oberst Oran K. Henderson, wegen ihrer Rolle beim Massaker bzw. ihrer Teilnahme an den Versuchen, es zu vertuschen, unter Anklage zu stellen. Doch nur gegen 14 Offiziere wurde ein Verfahren eingeleitet, und nur ein einziger Fall kam bis vor das Militärgericht: In diesem Verfahren wurde Oberst Henderson in allen Anklagepunkten freigesprochen.

Nicht viel anders war es bei den Verfahren gegen die Angehörigen der Charlie-Kompanie, den unmittelbaren Tätern von My Lai. Auch hier kam es - entgegen den Empfehlungen der zuständigen militärgerichtlichen Kriminaluntersuchungsabteilung - nur zu vier Anklagen. Und lediglich in einem einzigen Fall gab es auch eine Verurteilung: Am 31. März 1971 wurde Leutnant William Calley wegen 22fachen vorsätzlichen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch bereits am folgenden Tag ordnete US-Präsident Richard Nixon an, Calley bis zum Abschluß des Berufungsverfahrens aus dem Gefängnis zu entlassen und lediglich unter Hausarrest zu stellen. In den folgenden Monaten wurde das Strafmaß schrittweise auf zehn Jahre Haft reduziert, und am 25. September 1974, nach nur dreieinhalb Jahren Hausarrest, die er in der Kaserne Fort Benning im US-Bundesstaat Georgia verbrachte, wurde Calley endgültig freigelassen.

Letzte Änderung: 2. Oktober 2011