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Ausgewählte Artikel - 2008
Disput - März 2008

Das Ermächtigungsgesetz

Die Errichtung der Hitler-Diktatur erfolgte mit den Instrumenten der Weimarer Republik, und die bürgerlichen Parteien kollaborierten

Der Reichstag, der an diesem 23. März 1933 in der Berliner Kroll-Oper zusammentrat, war nicht der Reichstag, der wenige Wochen zuvor, am 5. März 1933, gewählt worden war: Trotz Gewalt und Terror und der massiven Behinderung des Wahlkampfes der übrigen Parteien - alles formaljuristisch abgedeckt durch zwei Notverordnungen des Reichspräsidenten von Hindenburg - war es Hitler und seiner NSDAP bei dieser Wahl nicht gelungen, die dringend gewünschte verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit der Stimmen und Mandate zu erzielen: Zwar konnte die Hitler-Partei im Vergleich zu den Novemberwahlen 1932 einen Zuwachs von 5,6 Millionen Stimmen auf nunmehr 17,3 Millionen verzeichnen, doch waren das nur 43,9 Prozent. Die SPD erhielt 7,5 Millionen Stimmen (18,3 Prozent). Und die KPD, die in besonderem Maße Ziel und Opfer des Nazi-Terrors war, hatte fast 4,9 Millionen Wählerinnen und Wähler mobilisieren können (12,3 Prozent). Doch bereits am 9. März 1933 ließ Hitler die 81 Mandate der KPD annullieren, so dass die NSDAP nun über eine Mehrheit von 53,5 Prozent verfügte.

Aber auch zusammen mit den Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei, der Hugenberg-Partei, zu dieser Zeit noch Koalitionspartner in der Hitler-Regierung, war die notwendige Zweidrittelmehrheit für das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« im Reichstag nicht gesichert. Für die Verabschiedung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes, mit dem Hitler unbegrenzte diktatorische Vollmachten erhalten und der Reichstag als Parlament ausgeschaltet werden sollte, benötigten Hitler und seine NSDAP die Zustimmung der bürgerlichen Parteien.

Erst zwei Tage vor der entscheidenden Reichstagssitzung erhielten die verbliebenen Abgeordneten den Entwurf des nur fünf kurze Artikel umfassenden Gesetzes. Artikel 1 legte fest: »Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden.« Und Artikel 2 bestimmte: »Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen ...« Jeder einzelne Artikel widersprach den allgemeinen Grundsätzen der Demokratie, und doch erwuchs dieses Gesetz letztlich aus dem Geist und den Buchstaben der Weimarer Verfassung.

Nur 94 der 120 Abgeordneten der SPD konnten an der entscheidenden Sitzung des Reichstages überhaupt teilnehmen. Die übrigen waren bereits ins Exil gegangen oder untergetaucht, zumeist aber waren sie - ungeachtet ihrer parlamentarischen Immunität - in den Tagen und Wochen nach der Reichstagswahl verhaftet und in eines der unmittelbar nach dem Reichstagsbrand errichteten Konzentrationslager verschleppt worden. Zwei Abgeordnete der SPD wurden von der zur Hilfspolizei erklärten SA sogar noch beim Betreten der Kroll-Oper festgenommen.

Doch keiner der Abgeordneten, auch nicht der Vorsitzende der SPD, Otto Wels, verwies vor dem Plenum auf diese ungeheuerliche Vergewaltigung des Parlaments oder stellte gar die Rechtmäßigkeit der Veranstaltung überhaupt in Frage. Und kein Wort der Solidarität mit den ausgeschlossenen kommunistischen Abgeordneten.

Durchaus mit persönlichem Mut verkündete Wels in einer kurzen Rede vor dem Reichstag das geschlossene Nein seiner Rest-Fraktion zum Ermächtigungsgesetz. Aber insbesondere in außenpolitischen Fragen betonte er demonstrativ eine Übereinstimmung mit den Positionen der Hitler-Regierung. Schändlicher und beschämender noch für die SPD waren allerdings drei Ereignisse in den folgenden Wochen, die untrennbar mit dem Namen Paul Löbe verbunden sind: Der demonstrative Austritt der SPD aus der Sozialistischen Arbeiter-Internationale wegen deren kritischer Haltung gegenüber dem Nazi-Terror Ende März 1933, die Zustimmung von 65 SPD-Reichstagsabgeordneten zum außenpolitischen Programm der Hitler-Regierung am 17. Mai 1933 und schließlich der Ausschluss der jüdischen Mitglieder aus dem Parteivorstand der SPD auf einer sogenannten Reichskonferenz am 19. Juni 1933 in Berlin.

Angesichts des Nein der 94 SPD-Abgeordneten und des Ausschlusses der 81 KPD-Abgeordneten auf der einen Seite und der Zustimmung der 288 Abgeordneten der NSDAP auf der anderen Seite fiel die entscheidende Rolle bei der Beschlussfassung über das Ermächtigungsgesetz den 156 Abgeordneten der sieben bürgerlichen Parteien zu, die im März 1933 noch im Reichstag vertreten waren: Die 72 Abgeordneten des Zentrums, 53 Abgeordneten der DNVP, 19 Abgeordneten der Bayerischen Volkspartei, fünf Abgeordneten der Deutschen Staatspartei, vier Abgeordneten der Deutschen Bauernpartei und der Abgeordnete der Deutschen Volkspartei stimmten geschlossen mit Ja und besiegelten damit das endgültige Ende der stets nur fragilen Weimarer Demokratie.

Nicht wenige dieser 156 Abgeordneten, die mit ihrer erbärmlichen Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz wesentlich dazu beitrugen, Hitler den Weg zur absoluten Macht und damit zu Weltkrieg und Völkermord zu ebnen, spielten nach 1945 eine maßgebliche Rolle in der alten Bundesrepublik: Theodor Heuss beispielsweise, der vormalige Reichstagsabgeordnete der Deutschen Staatspartei und nachmalige Mitbegründer der FDP, wurde der erste Bonner Bundespräsident. Hans Ritter von Lex, aus dessen Bayerischer Volkspartei nach 1945 personell und programmatisch die heutige CSU hervorging, wurde 1949 Staatssekretär im Bonner Innenministerium und war in dieser Eigenschaft Vertreter der Bundesregierung beim Verbotsverfahren gegen die KPD. Und Konrad Adenauer, 1933 zwar nicht Reichstagsabgeordneter, aber Oberbürgermeister von Köln, und nach 1945 Mitbegründer der CDU und erster Bundeskanzler der Bonner Republik, ließ am 30. März 1933 seine Kölner Zentrumsfraktion offiziell erklären: »Die vom Herrn Reichspräsidenten berufene, durch den erfolgreichen Verlauf der nationalen Revolution bestätigte Regierung darf nicht gefährdet werden, da sonst die Folgen unabsehbar sind. ... Wir begrüßen die Vernichtung des Kommunismus und die Bekämpfung des Marxismus ...«

Der 75. Jahrestag des Ermächtigungsgesetzes sollte auch Anlass sein, über Kontinuitäten nachzudenken, die heutzutage von offizieller Seite nur allzu gern verschwiegen werden.

Letzte Änderung: 2. Oktober 2011