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Ausgewählte Artikel - 2023
junge Welt – 18. März 2023

Das Ende von Weimar

Am 23. März 1933 beseitigte der Reichstag mit dem Beschluss über das Ermächtigungsgesetz die letzten Reste der bürgerlichen Demokratie

Am 30. Januar 1933 hatte Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt. Noch am selben Tag trat die Hitler-Hugenberg-Regierung zu ihrer ersten Kabinettsbesprechung zusammen. Zwei Fragen standen im Mittelpunkt: Zunächst ging es um das sofortige Verbot der KPD. Hitler allerdings sprach sich umgehend gegen einen solche Schritt aus. Er befürchtete »als Folge eines eventuellen Verbots der KPD schwere innenpolitische Kämpfe und eventuell den Generalstreik«, wie im Protokoll der Sitzung vermerkt wurde. »Es sei schlechterdings unmöglich«, so Hitler weiter, »die 6 Millionen Menschen zu verbieten, die hinter der KPD« stünden. Doch Hugenberg und Göring bezweifelten, dass die SPD »im Augenblick einen Generalstreik mitmachen« würde. Und sie behielten recht.

In einer Erklärung von Parteivorstand und Reichstagsfraktion der SPD, die am 31. Januar 1933 unter dem Titel »Arbeitendes Volk! Republikaner!« im »Vorwärts« veröffentlicht wurde, hieß, dass »die Stunde [… die] Bereitschaft zum Einsatz der letzten und äußersten Kräfte« erfordere. Doch dann wurde vor eigenständigen Aktionen gewarnt: »Wir führen unseren Kampf auf dem Boden der Verfassung.« Dass Hitler den Boden der Weimarer Verfassung so schnell wie möglich verlassen würde, lag offensichtlich außerhalb der Vorstellungskraft der maßgeblichen Spitzenfunktionäre der SPD.

Denn das zweite große Thema der Besprechung in der Reichskanzlei war die Verabschiedung eines sogenannten Ermächtigungsgesetzes durch den Reichstag. Gesetze, die der Reichsregierung für einen eng begrenzten Zeitraum außerordentliche Befugnisse zur Lösung von politischen oder wirtschaftlichen Problemen einräumten, hatte es in der Weimarer Republik bereits zuvor gegeben. Zwischen 1919 und 1927 waren zehn derartige Gesetze vom Reichstag verabschiedet worden. Erstmals am 13. Oktober 1923 war ein Gesetz verabschiedet worden, das auch im Titel die Bezeichnung »Ermächtigungsgesetz« trug.

Doch Hitler wollte mehr. Er wollte uneingeschränkte Vollmachten, die von keinem Reichspräsidenten oder Reichstag beschnitten werden konnten. Dazu benötigte er ein Gesetz, das verfassungsändernden Charakter hatte.

Am 1. Februar 1933 löste Reichspräsident Hindenburg, wie von Hitler gefordert, den Reichstag auf. Neuwahlen wurden für den 5. März 1933 angesetzt. Hitler spekulierte auf eine deutliche parlamentarische Mehrheit, die den Weg zu »seinem« Ermächtigungsgesetz« eröffnen würde.

In den folgenden Wochen überrollten die Nazis ganz Deutschland mit einer Welle blutigen Terrors. Die Behörden, die bereits weitestgehend von Hitler und seiner Bande kontrolliert wurden, behinderten den Wahlkampf der übrigen Parteien mit willkürlichen Versammlungs- und Zeitungsverboten und der gewalttätigen Verfolgung ihrer Funktionäre. Mit der »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat« vom 28. Februar 1932, die Hindenburg buchstäblich nur Stunden nach dem Reichstagbrand unterzeichnet hatte, wurden alle bürgerlichen Rechte und Freiheiten auf unbestimmte Zeit aufgehoben.

Doch das genügte Hitler nicht.

Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 konnte die NSDAP im Vergleich zu den Novemberwahlen 1932 einen Zuwachs um 5,6 Millionen Stimmen auf nunmehr 17,3 Millionen Stimmen verzeichnen. Das entsprach allerdings nur 43,9 Prozent. Die SPD erhielt 7,5 Millionen Stimmen (18,3 Prozent). Und die KPD, die in besonderem Maße Ziel und Opfer des Nazi-Terrors war, hatte fast 4,9 Millionen Wähler mobilisieren können (12,3 Prozent). Am 9. März 1933 ließ Hitler daher die 81 Mandate der KPD annullieren, so dass die NSDAP nun über eine Mehrheit von 53,5 Prozent verfügte.

Aber auch zusammen mit den Stimmen der DNVP, der Hugenberg-Partei, zu dieser Zeit noch Koalitionspartner in der Hitler-Regierung, war die notwendige Zweidrittelmehrheit für das Ermächtigungsgesetz im Reichstag nicht gesichert. Hitler und die NSDAP benötigten die Zustimmung der bürgerlichen Parteien.

Am 23. März 1933 trat der neugewählte Reichstag in der Berliner Krolloper zusammen. Vor der Beratung des »Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich«, so die offizielle Bezeichnung des Ermächtigungsgesetzes, beschloss das Gremium mit den Stimmen der bürgerlichen Parteien, aber gegen das Votum der SPD-Abgeordneten, eine Änderung der Geschäftsordnung: Abgeordnete, die »unentschuldigt« fehlten, zählten nun als anwesend. Und »unentschuldigt« waren nicht nur die Abgeordneten, denen die Flucht ins Ausland geglückt war, sondern auch die Abgeordneten, die sich ungeachtet ihrer parlamentarischen Immunität bereits in Haft befanden. Damit hatte die SPD keine Möglichkeit mehr, die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz durch Fernbleiben zu verhindern.

Otto Wels, der Parteivorsitzende der SPD, bewies durchaus persönlichen Mut, als er in einer kurzen Rede vor dem Reichstag das geschlossene Nein seiner Fraktion zum Ermächtigungsgesetz ankündigte. Aber insbesondere in außenpolitischen Fragen betonte er demonstrativ eine Übereinstimmung mit den Positionen der Hitler-Regierung. Und es gab kein Wort der Solidarität mit den kommunistischen Abgeordneten, durch deren willkürlichen Ausschluss der Reichstag vergewaltigt worden war und jede Legitimität verloren hatte.

Das Abstimmungsergebnis ließ keinen Zweifel: Alle bürgerlichen Abgeordneten hatten für Hitler gestimmt, nur die Abgeordneten der SPD hatten sich verweigert. Mit 444 gegen 94 Stimmen der SPD – 26 der 120 gewählten sozialdemokratischen Abgeordneten waren bereits emigriert oder verhaftet – wurde das Gesetz angenommen, alle 156 Abgeordneten der bürgerlichen Parteien hatten mit Ja votiert.

Es überrascht nicht wirklich, dass viele der bürgerlichen Abgeordneten, die durch ihr erbärmliches Verhalten bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz geholfen hatten, Hitler den Weg in die blutige Diktatur zu bahnen, nach der Befreiung vom Faschismus als »lupenreine Demokraten« reüssierten. Theodor Heuss, Reichstagsabgeordneter der Deutschen Staatspartei, wurde erster Bundespräsident der alten Bundesrepublik. Hans Ritter von Lex von der Bayerischen Volkspartei war als Staatssekretär im Bonner Innenministerium Vertreter der Bundesregierung beim Verbotsverfahren gegen die KPD im Jahre 1956. Und Konrad Adenauer, 1933 zwar nicht Reichstagsabgeordneter, aber Oberbürgermeister von Köln, und nach 1945 Mitbegründer der CDU und erster Bundeskanzler der Bonner Republik, ließ am 30. März 1933 seine Kölner Zentrumsfraktion offiziell erklären: »Die vom Herrn Reichspräsidenten berufene, durch den erfolgreichen Verlauf der nationalen Revolution bestätigte Regierung darf nicht gefährdet werden, da sonst die Folgen unabsehbar sind. [...] Wir begrüßen die Vernichtung des Kommunismus und die Bekämpfung des Marxismus.«

 

Letzte Änderung: 21. Juni 2023