neues deutschland – 13. März 2021

Eine zweite Revolution?

Rückblick auf eine Konferenz über das Frühjahr 1919 in Deutschland und Europa

Vor einhundert Jahren, im März 1919, war der Berliner Bezirk Lichtenberg, damals noch eine selbstständige Stadtgemeinde am Rande der deutschen Hauptstadt, Schauplatz eines blutigen Krieges gegen die örtliche Bevölkerung. Schwere Artillerie und sogar Bombenflugzeuge wurden eingesetzt, um einen spontanen Protest niederzuwerfen. Nur wenige Monate nach der Novemberrevolution und dem Sturz der Monarchie, während die Mitglieder der Nationalversammlung – auf der Flucht vor der Revolution – im beschaulichen Weimar über eine Verfassung der jungen Republik debattierten, waren Streikende in ganz Deutschland, mit dem Schwerpunkt Berlin, auf die Straße gegangen, um nachdrücklich die Sozialisierung der Großindustrien und die Verankerung des Rätesystems in der Verfassung zu fordern. Viele Arbeiter bewaffneten sich, Barrikaden wurden errichtet. Am 4. März 1919 marschierten Freikorpstruppen unter dem Befehl des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske in Berlin ein und begannen mit der militärischen Niederschlagung des Generalstreiks. Am 8. März 1919 wurde der Generalstreik ergebnislos abgebrochen. Am 12. März 1919 musste die letzte Barrikade an der heutigen Frankfurter Alle, Ecke Möllendorfstraße, aufgegeben werden. Dem weißen Terror, der noch mehrere Tage andauerte, fielen etwa 2.000 Menschen zum Opfer.

Die Erinnerung an diese Ereignisse war Anlass, nur wenige Dutzend Meter entfernt vom Ort der letzten Barrikade entfernt, im Rathaus Lichtenberg, am 9. März 2019 eine hochkarätig besetzte wissenschaftliche Konferenz durchzuführen, die einen Rückblick auf das Frühjahr 1919 in Deutschland und Europa geben sollte. Vor wenigen Wochen ist in der »Buchmacherei« der Konferenzband mit dem Titel »Eine zweite Revolution?« erschienen. Auch wenn weitere vergangene und noch anstehende hundertste Jahrestage, nicht zuletzt der Jahrestag des Kapp-Putsches und seiner Niederwerfung im März diesen Jahres oder der Jahrestag der  mitteldeutschen Märzkämpfe im kommenden Jahr, die Aufmerksamkeit der historisch interessierten Öffentlichkeit auf sich ziehen, sollte die hier vorzustellende Publikation unbedingt die verdiente Beachtung finden. Denn die Autorinnen und Autoren beschränken sich nicht auf eine bloße Darstellung der Ereignisse des Frühjahrs 1919, sie ordnen die Geschehnisse in den Prozess der revolutionären Umbrüche der Jahre 1914 bis 1923 ein und geben ihm, besonders hervorzuheben, eine über Deutschland hinausreichende europäische Perspektive.

Regionalgeschichtliche Untersuchungen beschäftigen sich mit den Ereignissen des Frühjahrs 1919 im Ruhrgebiet, in Mitteldeutschland und in Bayern. Ein eigenes Kapitel ist dem Thema »Frauen und Revolution« gewidmet. Bemerkenswert ist auch, dass sich die Autorinnen und Autoren nicht auf die Sicht der Anhänger der Revolution beschränken, sondern auch das Denken und Handeln der Gegner und Feinde der Revolution zum Gegenstand der Betrachtung machen.

Kurz und gut, der Band hält, was der Verlag auf dem Rücktitel verspricht: Er macht auf lesenswerte Weise »deutlich, dass das Frühjahr 1919 eine Zeit politischen Aufbruchs, dramatischer wie enttäuschter Hoffnungen« war.

Axel Stefan, Dietmar Robert, Weipert Bollinger, Lange Schmieder (Hrsg.)
Eine zweite Revolution? Das Frühjahr 1919 in Deutschland und Europa
Die Buchmacherei, Berlin 2020

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 27. April 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2021/eine-zweite-revolution/