www.ronald-friedmann.de
Ausgewählte Artikel - 2021
neues deutschland – 17. April 2021

Eine Straße in Berlin für die Kommunarden von Paris

Nur wenige Dutzend Meter vom nd-Gebäude entfernt, dem Sitz von Redaktion und Verlag des »neuen deutschland«, nur getrennt durch einen Parkplatz und ein paar Sträucher, verläuft die Straße der Pariser Kommune, die einstige Fruchtstraße.

Am 18. März 1971 hatte das »Neue Deutschland«, damals noch das »Zentralorgan«, auf der letzten Seite seiner Berlin-Ausgabe in einem sogenannten Kasten kurz und knapp gemeldet: »Der Magistrat hat anläßlich des 100. Jahrestages der Pariser Kommune beschlossen, die Fruchtstraße im Stadtbezirk Friedrichshain in ›Straße der Pariser Kommune‹ umzubenennen.« Erstaunlich genug: Diese Entscheidung war wohl tatsächlich in Berlin gefallen. Denn die online verfügbaren Findbücher zu den Akten des Politbüros und des Sekretariats des ZK der SED geben keinen Hinweis darauf, dass sich der höchste Führungszirkel der DDR mit der geplanten Straßenumbenennung in der Hauptstadt befasst hätte. Selbstverständlich war der Jahrestag der Pariser Kommune auch dort wiederholt ein Thema. So war am 3. Februar 1971 beschlossen worden, am 18. März 1971 in Berlin eine zentrale Festveranstaltung durchzuführen. Am 16. März 1971 wurde die Rede von Horst Sindermann, Mitglied des Politbüros, im Umlaufverfahren bestätigt. Und wenige Wochen später, im April, befasste sich das Sekretariat des ZK – wiederum im Umlaufverfahren – mit der »Teilnahme von Vertretern der DDR am Kolloquium der Französischen Kommunistischen Partei zum Jahrestag der Pariser Kommune in Paris«.

Derzeit sind die einschlägigen Akten der SED-Bezirksleitung Berlin und des Berliner Magistrats pandemiebedingt nicht zugänglich. Es fehlen also die Dokumente, auf deren Grundlage sich die Entscheidungen des Frühjahrs 1971 geschichtswissenschaftlich exakt hätten nachvollziehen lassen. So ist es ein Glücksfall, dass es einen namhaften Zeitzeugen gibt, der sich lebhaft an die damaligen Ereignisse erinnert: Hans Modrow, damals Sekretär der SED-Bezirksleitung, bestätigt in einem Telefongespräch, dass die Umbenennung der Fruchtstraße tatsächlich eine Angelegenheit der Berliner gewesen war. Die Idee sei von Oberbürgermeister Herbert Fechner gekommen. Fechner habe mit der Umbenennung einer wichtigen und geschichtsträchtigen Straße im einstigen proletarischen Osten der Hauptstadt eine im Stadtbild erkennbare Verbindung zwischen der Karl-Marx-Allee und dem Leninplatz, heute Platz der Vereinten Nationen, herstellen wollen. Dass ein großer Teil dieser symbolischen Verbindung die Friedenstraße sein würde, sei keineswegs ein Zufall gewesen.

So überrascht es kaum, dass die Kundgebung anlässlich der Umbenennung am 5. April 1971 auf der Kreuzung der Karl-Marx-Allee mit der nunmehrigen Straße der Pariser Kommune stattfand.

Etwa 3 000 Berlinerinnen und Berliner, so konnte man es am darauffolgenden Tag in einem kurzen Bericht unter der Überschrift »Berliner ehrten Pariser Kommunarden« im »Neuen Deutschland« lesen, hatten an dieser Kundgebung teilgenommen. Die Festrede hielt Herbert Fechner. Er erinnerte, so der weitere Bericht, »an jene Zeit, in der August Bebel und Karl Liebknecht in den ehemaligen Festsälen an der Koppenstraße den Arbeitern Berlins die Ideen der Pariser Kommunarden verkündeten. ›Hier im früheren Zentrum des Ostens von Berlin«, erklärte er, »legte Ernst Schneller in den Märztagen des Jahres 1929 vor 3 000 Arbeitern in der nahegelegenen 'Plaza' ein begeisterndes Treuebekenntnis zum proletarischen Internationalismus ab.‹ Durch diese Straße demonstrierten ein Jahr später Tausende Menschen unter einem Meer roter Fahnen nach Friedrichsfelde, wo Genosse Walter Ulbricht an den Gräbern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die Arbeiterklasse zum Kampf gegen den Faschismus, gegen die Nachfolger der Henker der Pariser Kommune aufrief.« (Nur einen Monat später, dieser kurze Exkurs sei erlaubt, wäre eine Referenz an Walter Ulbricht nicht mehr opportun gewesen: Am 3. Mai 1971 löste Erich Honecker Walter Ulbricht an der Spitze der SED ab, der damit zur Persona non grata wurde.)

Tatsächlich hatte die vormalige Fruchtstraße zum Zeitpunkt der Umbenennung bereits eine lange und bewegte Geschichte hinter sich. Einige wenige Stichworte müssen an dieser Stelle genügen, wobei es schwierig ist, die Fruchtstraße losgelöst von dem Quartier zu betrachten, deren Teil sie war. Ihren Namen erhielt die Straße Ende 1820, eine Referenz an die fruchtbaren Böden und an die zahlreichen Gärtnereien, die sich hier angesiedelt hatten und sogar die Belletristik bereicherten. So ließ Georg Hermann, der »jüdische Fontane«, der im November 1943 im Alter von 72 Jahren in Auschwitz ermordet wurde, eine Protagonistin seines 1906 verfassten, in den 1830er Jahren angesiedelten Romans »Jettchen Geberts Geschichte« von den »Hyazinthenfeldern in der Fruchtstraße« schwärmen.

Mit der beginnenden Industrialisierung Berlins und dem Zuzug Tausender Menschen aus allen Teilen Deutschlands im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts änderte sich der Charakter der Straße und der Umgegend. Allein in der Fruchtstraße wurden innerhalb weniger Jahre 73 fünfgeschossige Mietskasernen mit mehreren, zumeist dunklen Hinterhöfen gebaut, in deren Erdgeschoß sich zahlreiche kleine Gewerbebetriebe ansiedelten. Es entstand das proletarische Milieu, für das die Zeichnungen von Heinrich Zille stehen, der seine Motive allerdings eher im legendären Scheunenviertel in der Gegend des Alexanderplatzes gesucht hatte.

Unter diesen Umständen war das Wirken der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG) von besonderer Bedeutung, die 1911 auf Initiative des Pfarrers Friedrich Siegmund-Schultze gegründet worden war und mehr als zwei Jahrzehnte inmitten des sozialen Elends Nachbarschaftshilfe leistete und organisierte. Bereits 1913 war als Teil dieses Projekt in der Fruchtstraße 63 eine »Frauenkolonie« entstanden, in der Frauen und Mädchen einen Freiraum hatten. Im Winter 1924/1925 nahm die SAG ein ganz besonderes Vorhaben in Angriff: Studenten, die man in eine »proletarische« Kluft gesteckt hatte, besuchten und dokumentierten im Rahmen einer soziologischen Studie die 32 (!) Kneipen in der Fruchtstraße. Der Machtantritt der deutschen Faschisten im Januar 1933 bedeutete auch das Ende der SAG.

Zwischen 1937 und 1941 betrieb die Jüdische Gemeinde zu Berlin in einer Halle auf einem Hinterhof der Fruchtstraße 74 eine eigene Bauschule, in der junge Männer im Zuge der sogenannten Berufsumschichtung eine Ausbildung als Maurer erhielten und sich so auf das Leben in Palästina vorbereiten konnten. Doch mit dem von den Nazis verfügten Verbot der jüdischen Auswanderung und dem Beginn des systematischen Massenmordes an den europäischen Juden musste auch die Bauschule ihre Tätigkeit einstellen. Seit Mai 2017 wird mit einer Gedenktafel an den historischen Ort erinnert.

In den Jahren des Zweiten Weltkrieges wurden große Teile der Fruchtstraße bei Bombenangriffen zerstört. Nur im nördlichen Teil, nahe der heutigen Karl-Marx-Allee, blieben einige wenige Häuser aus der sogenannten Gründerzeit erhalten. Die Neubauten, die in den 1960er und frühen 1970er Jahren entstanden, haben nicht nur das Bild der Straße völlig verändert. Auf engstem Raum entstanden neue soziale Milieus. Ihre wohl bekanntesten Repräsentanten waren Paul und Paula, die Roman- und Filmhelden in Ulrich Plenzdorfs »Legende vom Glück ohne Ende« aus dem Jahre 1973, die in der Fruchtstraße lebten und liebten.

Letzte Änderung: 18. April 2021