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Ausgewählte Artikel - 2020
neues deutschland – 12. Februar 2020

Zeuge vom Hörensagen

Roman Polanskis neuer Film hat das Interesse am Thema neu geweckt - doch es ist kaum bekannt, dass es auch in Deutschland eine »Affäre Dreyfus« gegeben hat

Am 11. Dezember 1925 wurde der vormalige Oberlagerverwalter bei den Berlin-Karlsruher Industriewerken, Walter Bullerjahn, geboren 1893 in Hamburg, vom Reichsgericht in Leipzig wegen Landesverrats zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Bullerjahn, so die Anklage, hätte ein geheimes deutsches Waffenlager an die Interalliierte Militärkontrollkommission verraten, die die Einhaltung des Versailler Vertrages durch Deutschland überwachte.

Auf den ersten Blick unterschied sich der Fall Bullerjahn nicht von anderen, ähnlich gelagerten Fällen eines angeblichen Landesverrats. Doch er hatte eine Besonderheit, die ihn zu einer deutschen »Affäre Dreyfus« machte: Das Urteil gegen Bullerjahn basierte entgegen den Bestimmungen der Strafprozessordnung nahezu ausschließlich auf der Aussage eines geheimnisvollen Belastungszeugen, der niemals vor Gericht erschienen war, der folglich nie vor Gericht befragt worden war, ja dessen Name weder dem Gericht noch den Verteidigern bekannt war. Drei Beamte, die die vorgerichtlichen Untersuchungen geführt hatten, hatten vor Gericht lediglich dessen Aussage wiedergegeben.

Gegen ein Urteil des Reichsgerichts waren weder Berufung noch Revision möglich. Und allen Prozessbeteiligten war strikte Verschwiegenheit auferlegt worden. Das Schicksal von Walter Bullerjahn, der nicht nur kein Geständnis abgelegt, sondern immer wieder seine Unschuld beteuert hatte, schien endgültig besiegelt.

Doch Bullerjahns Anwalt, Ernst Emil Schweitzer, war nicht bereit, seinen Mandanten aufzugeben. Er suchte die Hilfe von Paul Levi, der, geschützt durch seine Immunität als Reichstagsabgeordneter, den Fall im Februar 1926 in einer Rede vor dem höchsten deutschen Parlament öffentlich machte.

Unterstützt durch die Liga für Menschenrechte und deren Generalsekretär Kurt R. Grossmann entwickelte sich in den folgenden Jahren eine juristische und politische Kampagne, in der es zunächst darum ging, das Reichsgericht zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens zu bewegen. Denn das größte Problem bestand darin, dass das Reichsgericht in seiner inzwischen fast fünfzigjährigen Geschichte noch nie einem Wiederaufnahmeverfahren zugestimmt hatte und dass es derselbe Gerichtshof war, der das Urteil gesprochen hatte, der dieses eigene Urteil nun höchstrichterlich wieder infrage stellen sollte.

Als entscheidend erwies sich schließlich, dass mehrere namhafte Rechtsgelehrte in ihren Gutachten übereinstimmend zum dem Schluss gelangten, dass das ursprüngliche Urteil gegen Bullerjahn ganz offensichtlich rechtsfehlerhaft gewesen war, zumal der vormals unbekannte Zeuge inzwischen auch in der Öffentlichkeit bekannt war. Es handelte sich um den Direktor der Berlin-Karlsruher Industriewerke, der, wie sich sehr schnell herausstellte, keineswegs über eigenes Wissen verfügte, sondern in den Vernehmungen lediglich Informationen vom Hörensagen – aus zweiter und dritter Hand – weitergegeben hatte.

Trotzdem dauerte es mehr als zwei Jahre, bis das Reichsgericht im Mai 1931 dem Wiederaufnahmeantrag zustimmte und nun selbst den »unbekannten Zeugen« vernahm. Erst nach dessen Aussage wurde Bullerjahn wegen seiner »angegriffenen Gesundheit« Hafturlaub gewährt, nachdem er nicht weniger als sechs Jahre und vier Monate seiner offensichtlich zu Unrecht verhängten Strafe bereits verbüßt hatte.

Das zweite Verfahren gegen Walter Bullerjahn begann am 3. November 1932 in Leipzig. Im Verlaufe der mehrwöchigen Verhandlung wurde sehr schnell deutlich, dass die von der Reichsanwaltschaft erhobene Anklage nicht zu halten war und dass nur ein Freispruch wegen erwiesener Unschuld auf der Tagesordnung stehen konnte. Doch zu einem solchen Schritt konnte sich das Reichsgericht nicht durchringen. Zwar wurde Walter Bullerjahn am 2. Dezember 1932 freigesprochen, aber nicht wegen erwiesener Unschuld, sondern mangels Beweisen. Das Gericht bestätigte – wohl ein Zugeständnis an die Reichsanwaltschaft – einen »begründeten Tatverdacht«, was unter anderem zur Folge hatte, dass Bullerjahn für die offensichtlich zu Unrecht erlittene Haft keine Entschädigung erhielt.

Walter Bullerjahn überlebte die Nazizeit und war nach Ende des Zweiten Weltkriegs Leiter der Strafanstalt Gräfentönna in Thüringen. Ende 1948 oder Anfang 1949 sollte er die Leitung der Haftanstalt Brandenburg-Görden übernehmen, wo er selbst mehrere Jahre Gefangener gewesen war. Doch er erkrankte und starb im Alter von nur 55 Jahren am 27. August 1949 in Erfurt.

Letzte Änderung: 13. Februar 2020