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Ausgewählte Artikel - 2020
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform – Februar 2020

Das Ghetto von Lodz

Vor 80 Jahren, im Februar 1940, wurde in der vormals polnischen Stadt Lodz das erste »reguläre« jüdische Ghetto der Nazizeit errichtet

Bereits in den ersten Tagen und Wochen nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 richtete die SS, die der deutschen Wehrmacht bei ihrem Kriegszug in Richtung Osten in kurzem Abstand folgte, die ersten »provisorischen« Ghettos ein. Die jüdische Bevölkerung der eben eroberten Gebiete wurde unter Missachtung ihrer elementarsten Lebensbedürfnisse zusammengetrieben und dazu verdammt, unter unmenschlichen Bedingungen auf eine Entscheidung über ihr weiteres Schicksal zu warten. Noch stand der organisierte Massenmord nicht auf der Tagesordnung, es ging zunächst »nur« darum, die jüdische Bevölkerung zu deportieren und an ihrer Stelle »rassisch wertvolle Deutschstämmige« aus anderen Teilen des hitlerdeutschen Machtbereiches anzusiedeln.

Eine besondere Rolle bei der massenhaften »Umsiedlung« war der vormals polnischen Stadt Lodz zugedacht, deren Name zunächst zu »Lodsch« eingedeutscht und dann, ab April 1940, durch den Namen eines Generals des Ersten Weltkrieg ersetzt wurde: Litzmannstadt. Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Lodz etwa 650 000 Einwohner, 233 000 von ihnen, also etwa ein Drittel, waren Juden. Damit lebte in Lodz, nach Warschau, die zweitgrößte jüdische Bevölkerungsgruppe ganz Polens. Entsprechend reich und vielfältig war das jüdische Leben in der Stadt, das mit dem Einmarsch der Deutschen ein abruptes Ende fand.

Am 10. Dezember 1939 versandte Friedrich Uebelhoer, Regierungspräsident des neugeschaffenen deutschen Regierungsbezirks Kalisch, zu dem auch Lodz gehörte, ein Rundschreiben, mit dem er die Errichtung eines jüdischen Ghettos im Norden der Stadt anordnete. Dieses Ghetto war allerdings nur als »Zwischenlösung« gedacht, denn, wie der Regierungspräsident ausdrücklich betonte, sei und bleibe es das Ziel, dass »die Stadt Lodsch von Juden gesäubert« werde.[1] Zwei Monate später, am 10. Februar 1940, wurden die Grenzen des künftigen Ghettos festgelegt. Alle nichtjüdischen Bewohner wurden aufgefordert, das etwa vier Quadratkilometer große Gebiet umgehend zu räumen. Die jüdischen Bewohner von Lodz mussten ihre bisherigen Wohnungen aufgeben und in das Ghetto umziehen, oder, soweit sie bereits im Gebiet des Ghettos lebten, weitere, auch fremde Menschen in ihren ohnehin armseligen und viel zu engen Wohnungen aufnehmen. Mit der Schließung der Grenzen des Ghettos am 30. April 1940 war es ihnen bei Todesstrafe verboten, das ihnen zum Leben und Sterben zugewiesene Gebiet zu verlassen.

In den folgenden Jahren entstanden auf dem Gebiet des Ghettos zwei weitere Lager. Von 1942 bis zur Befreiung von Lodz durch die Rote Armee im Januar 1945 existierte in unmittelbarer Nachbarschaft zum jüdischen Ghetto das sogenannte Polen-Jugendverwahrlager, in dem bis zu 2 000 polnische Kinder und Jugendliche interniert wurden, die als »Terroristen- und Banditenkinder« galten oder die aus der Not heraus kleinere Straftaten begangen hatten. Im November 1941 wurde das »Zigeunerlager« errichtet, das allerdings nur etwa zwei Monate bestand. Bereits im Januar1942 wurden die etwa 5 000 Sinti und Roma in das Vernichtungslager Kulmhof weitertransportiert, wo sie umgehend ermordet wurden.

Am 28. Juli 1940 gelang es einer Gruppe hochrangiger jüdischer Funktionäre aus dem besetzten Polen, die US-Botschaft in Berlin über die Lage der Juden in dem unter deutscher Herrschaft stehenden Gebiet zu informieren. In dem Bericht, den die Botschaft umgehend an das Außenministerium in Washington übermittelte, hieß es über das Ghetto in Lodz: »Das Gebiet, auf dem sich das heutige Ghetto von Lodz befindet, das zwischen 220 000 und 250 000 Personen beherbergt, wurde vor dem Krieg von 70 000 Menschen bewohnt und galt bereits damals als übervölkert. Die Häuser dieses Lodzer Vororts (Baluty [2]) entbehren jeglichen Komforts. Noch nicht einmal eine funktionierende Abwasserentsorgung ist vorhanden, und nur 10 Prozent der Unterkünfte besitzen Wasserklosetts. Die Straßen sind zumeist eng und dunkel. Wer diesen Vorort vor dem Krieg gekannt hat, wird sich unschwer ausmalen können, welche Lebensbedingungen hier fast einer Viertelmillion Menschen zugemutet werden. Das Ghetto ist von Stacheldrahtzäunen umgeben, die außen von der deutschen und innen von der jüdischen Polizei ohne Unterlass bewacht werden.«[3]

Der Hinweis auf eine »jüdische Polizei« war nicht zufällig. Es gehörte zur perfiden Praxis der deutschen Besatzungsbehörden, die Insassen der Ghettos selbst für die »Verwaltung« ihres Elends verantwortlich zu machen. Mit der Einsetzung von »Judenräten« schufen sie sich Organe, die vollständig von ihren Befehlen und Anweisungen abhängig waren, aber gegenüber den Leidensgefährten in den Ghettos als »jüdische Selbstverwaltung« die grausamen und unmenschlichen Forderungen der deutschen Besatzungsbehörden durchzusetzen hatten.

In Lodz war es der damals fast 70jährige Chaim Rumkowski, der im Oktober 1940 zum »Judenältesten von Litzmannstadt« ernannt wurde. Rumkowski sah die einzige Chance, das Leben der Menschen im Ghetto zu retten, indem er das Ghetto und seine Bewohner durch die Übernahme kriegswichtiger Arbeiten für die deutschen Besatzer »unverzichtbar« machte. Tatsächlich waren zeitweise bis zu 70 000 Insassen des Ghettos als Zwangsarbeiter bei der Herstellung von Uniformen, Stiefeln, Waffenteilen und Munition beschäftigt. Zu den großen deutschen Firmen, die zum »Selbstkostenpreis« im Ghetto produzieren ließen, gehörten u.a. die Unternehmen Josef Neckermann und Heinrich Leineweber, wie der Historiker Joseph Wulf bereits 1962 nachweisen konnte.[4]

In einer Situation, in der schon der Kampf um das bloße Überleben ein Akt des Widerstands war [5], waren die Insassen des Ghettos, trotz Hunger und Elend und des ständig drohenden gewaltsamen Todes bemüht, ein zumindest in Teilen »normales« Leben zu führen. So gab es zum Beispiel bis Mitte 1942 im Ghetto 23 Elementarschulen mit 13 000 Schülern und zwei Mittelschulen mit weiteren 1 300 Schülern, in denen mehr als 400 Lehrer unentgeltlich arbeiteten.

Es gehört aber auch zur Geschichte des Ghettos Lodz, dass der »Judenälteste« Chaim Rumkowski ein persönliches Regime errichtete, das ihm den wenig schmeichelhaften Namen eines »Königs Chaim I.« einbrachte. Anders als die »Judenältesten« in anderen Ghettos, die sich solchen Forderungen in nicht wenigen Fällen durch Selbstmord entzogen, war Rumkowski bereit, für die deutschen Behörden Deportationslisten zum Abtransport in die Vernichtungslager zusammenzustellen. Im September 1942 verlangte er von den Insassen des Ghettos sogar, dass die Eltern ihre jüngeren Kinder opfern sollten, um so die älteren Kinder und andere Familienmitglieder zu retten. Dennoch, darauf weist die US-amerikanische Historikerin Deborah Lipstadt, der es im April 2000 in einem spektakulären Prozess in London gelang, den Holocaustleugner David Irving der Lüge zu überführen, ausdrücklich hin, gab es nicht wenige Überlebende des Ghettos Lodz, die Chaim Rumkowski in späteren Jahren als ihren »Retter« würdigten.[6]

Die Deportationen aus dem Ghetto Lodz in die Vernichtungslager, zunächst Kulmhof, dann Auschwitz, begannen Anfang 1942. Zeitweise waren es bis zu 16 000 Menschen, die innerhalb einer einzigen Woche in den Tod geschickt wurden. Dennoch ging die Zahl der Insassen des Ghettos nur langsam zurück, denn immer wieder wurden Menschen aus anderen Teilen des hitlerdeutschen Machtbereiches nach Lodz deportiert.

Mitte 1944, unter dem Eindruck des unaufhaltsamen Vormarsches der Roten Armee, begann die schrittweise Auflösung des Ghettos von Lodz, des letzten der großen Ghettos. Einige Tausend jüngere Insassen wurden als billige Arbeitskräfte ins »Altreich« transportiert, die übrigen Insassen, unter ihnen auch Chaim Rumkowski und seine Familie, wurden in Auschwitz ermordet. Als die Rote Armee am 19. Januar 1945 Lodz befreite, fanden die sowjetischen Soldaten auf dem Gebiet des früheren Ghettos nur noch die 870 Überlebenden des sogenannten Aufräumkommandos und 30 Kinder und 80 Erwachsene vor, die sich vor den Deportationen hatten verstecken können. Insgesamt überlebten nur etwa 7 000 Menschen die Hölle des Ghettos von Lodz.

Hans Biebow, seit 1940 Kommandant des Ghettos, wurde nach dem Krieg von einem polnischen Gericht zum Tode verurteilt und am 23. Juni 1947 in Lodz hingerichtet. Friedrich Uebelhoer, der im Dezember 1939 die Errichtung des Ghettos in Lodz angeordnet hatte, war im Oktober 1943 Regierungspräsident in Merseburg geworden. Seine Spur verlor sich in den letzten Kriegstagen, er wurde gerichtlich für tot erklärt. Werner Ventzky allerdings, ab April 1941 Oberbürgermeister von Litzmannstadt und damit auch für das Ghetto verantwortlich, blieb nach dem Ende der Hitlerherrschaft nicht nur unbestraft, er konnte in der Bundesrepublik noch einmal Karriere machen – zunächst als Referent für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte im Arbeits- und Vertriebenenministerium von Schleswig-Holstein, dann, ab 1953, als Vertreter des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte in Westberlin. Als Oberregierungsrat in Bonn ging er schließlich in den hochdotierten Ruhestand. Die staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen ihn wurden endgültig 1960 eingestellt.

Anmerkungen

[1] Dokument 54: Der Regierungspräsident in Kalisch (Kalisz) ordnet am 10. Dezember 1939 an, mit der Bildung des Ghettos Lodsch (Lodz) zu beginnen, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 4: Polen – September 1939 bis Juli 1941, München 2011, S. 171-174, hier: S. 174.

[2] Zum Ghetto gehörten neben Baluty auch die Stadtteile Stare Miasto (Altstadt) und Marysin.

[3] Dokument 144: Jüdische Repräsentanten berichten der US-Botschaft in Berlin am 28. Juli 1940 über die Judenverfolgung in Westpolen, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, a.a.O., S. 336-338, hier: S. 337 f.

[4] Vgl. dazu: Josef Wulf, Lodz, das letzte Ghetto auf polnischem Boden, Bonn 1962.

[5] Vgl. dazu: Linda Jacobs Altman, Warsaw, Lodz, Vilna. The Holocaust Ghettos, Berkeley Heights (NJ-USA) 2014 (eBook).

[6] Vgl. dazu: Deborah Lipstadt, The Eichmann Trial, New York 2011 (eBook).

Letzte Änderung: 1. Februar 2020