Ausgewählte Artikel - 2020
¡Allende presente!
Vor fünfzig Jahren durchlebte Chile eine äußerst dramatische Epoche seiner Geschichte
Am 4. September 1970 war der Sozialist Salvador Allende, der Kandidat der Unidad Popular, als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen des Andenlandes hervorgegangen. Allende hatte 36,7 Prozent der Wählerstimmen erhalten, damit allerdings die notwendige absolute Mehrheit deutlich verfehlt. Sein konservativer Gegenkandidat Jorge Alessandri erhielt 34,9 Prozent der Stimmen. In absoluten Zahlen waren das lediglich 39.000 Stimmen weniger als Allende. Der dritte Bewerber, der Christdemokrat Radomiro Tomic, kam auf einen Stimmenanteil von 27,9 Prozent. Damit, so regelte es die Verfassung, lag die Entscheidung beim Parlament, das unabhängig vom Wahlergebnis den neuen Staatspräsidenten aus dem Kreis der Kandidaten bestimmen konnte.
Für Allende war es bereits der vierte Versuch, in das höchste Staatsamt zu gelangen. Er hatte sich bei seinen vorangegangenen Kandidaturen – 1954, 1958 und 1964 – stets auf ein breites Bündnis der Linkskräfte seines Landes stützen können, das zunehmend an sozialer Breite und gesellschaftlicher Akzeptanz gewann. Das war auch im Wahlkampf des Jahres 1970 der Fall gewesen.
Die Unidad Popular, die im Jahr zuvor von der Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei und zahlreichen weiteren, zumeist kleinen Parteien aus dem linken Spektrum gegründet worden war, hatte sich auf einen gemeinsamen Kandidaten, Salvador Allende, verständigt und vor allem ein gemeinsames Wahlprogramm vereinbart, das u.a. die Nationalisierung des für Chile lebenswichtigen Kupferbergbaus vorsah. Die Gewinne, die nun nicht mehr ins Ausland, insbesondere die USA, fließen würden, sollten für umfassende und nachhaltige sozialpolitische Maßnahmen verwendet werden, die in einem vierzig Punkte umfassenden Sofortprogramm der Regierung Allende formuliert worden waren.
Am 24. Oktober 1970 schließlich, nach langwierigen Verhandlungen mit der Christdemokratischen und anderen konservativen Parteien und zahlreichen, zum Teil substantiellen Zugeständnissen Allendes hinsichtlich seiner Vorhaben als Staatspräsident, wählte ihn das chilenische Parlament in das höchste Staatsamt. (Die chilenischen Christdemokraten, die ihre parlamentarische Macht nicht genutzt hatten, um die Wahl Allendes zu verhindern, wurden dafür umgehend und massiv kritisiert – von der CDU in Bonn und ihrem Vorsitzenden Helmut Kohl!)
Am 3. November 1970 konnte Salvador Allende, gefeiert von einer unüberschaubaren Menschenmenge, die sich vor der Moneda, dem Präsidentenpalast im Herzen der chilenischen Hauptstadt, versammelt hatte, sein Amt als Präsident der Republik Chile antreten.
Nur wenige Tage zuvor hatte er einen Mordanschlag unverletzt überlebt. Doch das Attentat hatte deutlich gemacht, dass die Reaktion innerhalb und außerhalb Chiles einen sozialistischen Staatspräsidenten, der zu dem von Kommunisten und anderen linken Kräften unterstützt wurde, niemals akzeptieren würde.
Dennoch war es zu einer unbestreitbaren Tatsache geworden: Zum ersten Mal in der Geschichte hatte ein sozialistischer Politiker mit einem sozialistischen Programm auf dem Weg demokratischer Wahlen die Staatsmacht erobert. Für zahllose Menschen in Chile, Lateinamerika und der ganzen Welt verband sich damit die Hoffnung auf einen friedlichen Weg zum Sozialismus. Mit Begeisterung und großer Aufmerksamkeit begleiteten sie in den nächsten Jahren jeden Schritt der Regierung von Staatspräsident Salvador Allende.
Doch ihre Solidarität konnte den Putsch am 11. September 1973 nicht verhindern.
Noch ein kurzer Nachsatz: Die Kommunistische Partei Chiles hatte ursprünglich den Dichter Pablo Neruda als ihren Kandidaten für das höchste Staatsamt nominiert. Von Neruda ist der Satz überliefert: »Welche Ehre zu kandidieren. Aber um Gottes willen, ich werde gewählt!« Er nahm deshalb voller Dankbarkeit die Entscheidung seiner Partei zur Kenntnis, auf einen eigenen Kandidaten zu verzichten und stattdessen Salvador Allende zu unterstützen.
Letzte Änderung: 9. Dezember 2020