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Ausgewählte Artikel - 2020
Freitag - 5. März 2020

1920: Ein politischer Generalstreik

In Berlin putschten Kapp und Lüttwitz, 12 Millionen Menschen in ganz Deutschland antworteten mit einem tagelangen Massenstreik

Was die Putschisten einte, die in den Morgenstunden des 13. März 1920 in das Berliner Regierungsviertel einmarschierten, war ihr abgrundtiefer Hass auf die gerade errichtete Weimarer Republik. Doch nur eine Minderheit wünschte die Wiederherstellung der Monarchie, die übergroße Mehrheit strebte die Errichtung einer Militärdiktatur an, die sich auf die etwa 120 Freikorps stützen sollte, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden waren.

Auslöser für den Putsch war die Entscheidung des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske vom 29. Februar 1920, die beiden Marinebrigaden Erhardt und von Loewenfeld, zwei Freikorps unter dem Kommando des Generals Walter von Lüttwitz, entsprechend den Festlegungen des Versailler Vertrags aufzulösen. General von Lüttwitz betrachtete die beiden Marinebrigaden allerdings als »unverzichtbar« für seine Truppe und widersetzte sich dem Befehl seines Ministers. Mehr noch, in einem Gespräch mit dem sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert am 10. März 1920 konfrontierte er das Staatsoberhaupt mit einer Vielzahl von politischen Forderungen, die einen direkten Angriff auf die Weimarer Verfassungsordnung darstellten. Ebert verzichtete dennoch darauf, Lüttwitz sofort zu entlassen und empfahl ihm lediglich den Rücktritt. Allerdings entschied sich Noske, aufgeschreckt durch das Gespräch zwischen Ebert und von Lüttwitz und einen einschlägigen Bericht seines Geheimdienstes, dem General zumindest das Kommando über die beiden Marinebrigaden zu entziehen.

General von Lüttwitz geriet damit in Zugzwang, wollte er nicht seine wichtigsten Truppen für den seit langem geplanten Putsch gegen die Weimarer Republik verlieren. Noch am Abend des 10. März 1920 begab er sich deshalb nach Döberitz, einer kleinen Ortschaft westlich von Berlin, wo die Marinebrigade Ehrhardt Quartier bezogen hatte. Mit der Zusage ihres Kommandeurs, Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt, dass die Truppe innerhalb von 48 Stunden bereit sei für den Marsch auf die Reichshauptstadt, kehrte von Lüttwitz nach Berlin zurück, wo er die übrigen Verschwörer, unter ihnen Waldemar Pabst, der Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, von seiner Entscheidung in Kenntnis setzte, den Putsch trotz unzulänglicher Vorbereitung zu beginnen.

Am 13. März 1920, einem Sonnabend, warnten alle deutschen Tageszeitungen vor dem drohenden Staatsstreich, der zu diesem Zeitpunkt bereits angerollt war. Die »Vossische Zeitung« titelte: »Die Gefahr der Gegenrevolution«. Das »Berliner Tageblatt« berichtete von einer »Bedrohung Berlins durch einen Militärputsch«. Und die »Freiheit«, die Zeitung der USPD, sprach eindringlich von »Stunden der Gefahr« und kündigte an: »Gegen die monarchistische Reaktion wird die revolutionäre Arbeiterschaft alle geeigneten Mittel anwenden, um sie niederzuwerfen.«

Der »Vorwärts«, die Zeitung der SPD, sah – völlig zu Recht – »Die Republik in Gefahr« und berichtete auf der Titelseite über den »Militäraufstand in Döberitz« und den Marsch der Marinebrigade Erhardt auf die Hauptstadt. Gleichzeitig kündigte der »Vorwärts« vollmundig »Schärfste Gegenmaßregeln der Regierung« an.

Doch im entscheidenden Augenblick war von »Gegenmaßregeln« keine Rede mehr: Als sich maßgebliche Reichswehrgeneräle weigerten, dem Befehl Noskes zu folgen, die Putschisten zu entwaffnen und zu verhaften, flüchtete die Reichsregierung aus Berlin, zunächst nach Dresden, dann nach Stuttgart. Ohne auf Widerstand zu stoßen, besetzten die Putschisten das Berliner Regierungsviertel. Der vormalige ostpreußische Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp wurde Reichskanzler, von Lüttwitz, der eigentliche »Macher« des Putsches, ernannte sich zum Reichswehrminister.

Bei ihrer Flucht aus Berlin hinterließen die sozialdemokratischen Mitglieder der Reichsregierung einen bemerkenswerten Appell, dem sich umgehend auch der Parteivorstand der SPD anschloss. Im Gegensatz zu ihrer bisherigen Politik, gegen jede revolutionäre Bewegung in Deutschland mit rücksichtsloser Gewalt vorzugehen, forderten sie nun selbst zum Generalstreik auf: »Der Militärputsch ist da! Die [...] Landsknechte [...] haben den Versuch unternommen, die Republik zu beseitigen und eine diktatorische Regierung zu bilden. [...] Wir haben die Revolution nicht gemacht, um uns heute wieder einem blutigen Landsknechtregiment zu unterwerfen. [...] Streikt! Schneidet dieser reaktionären Clique die Luft ab. Kämpft mit jedem Mittel um die Erhaltung der Republik! [...] Generalstreik auf der ganzen Linie!«   

Ein Aufruf zum Generalstreik kam auch von den Gewerkschaften. Unter der Losung »Auf zum Generalstreik! Die deutsche Republik ist in Gefahr« forderten der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund und die Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände einen »gewaltigen und erdrückenden Abwehrkampf der Arbeiterschaft« in ganz Deutschland.

Die weitestgehenden Forderungen allerdings erhob die Führung der USPD: »Es gilt den Kampf für den revolutionären Sozialismus! Gegen die Militärdiktatur! […] Gegen die Wiederherstellung der Monarchie! Tretet in geschlossener und einiger Kampffront in den Generalstreik!«

Die Führung der KPD nahm in der Frage der Verteidigung der Weimarer Republik zunächst eine sektiererische Haltung ein: Aus ihrer Sicht handelte es sich bei dem Putschversuch nur um den Kampf zwischen »zwei gegenrevolutionären Flügeln«, verkörpert durch den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert auf der einen Seite und die Putschisten Kapp und von Lüttwitz auf der anderen Seite. Eine Beteiligung am Generalstreik lehnte sie daher ab. Diese Position änderte sie jedoch bereits am folgenden Tag, als der Parteivorsitzende Paul Levi, der sich seit Mitte Januar 1920 auf Befehl Noskes in »Schutzhaft« befand, über seine Sekretärin Mathilde Jacob in die Debatte eingreifen konnte.

Dem Aufruf zum Generalstreik wurde innerhalb kürzester Zeit in ganz Deutschland Folge geleistet, obwohl es keine zentrale Streikleitung gab und unter den konkreten Umständen auch nicht geben konnte. Doch in allen Teilen des Reiches bildeten sich spontan örtliche und regionale Streikleitungen, Aktionsausschüsse und Arbeiterräte, in denen vor allem Vertreter von USPD und KPD, aber auch der SPD und der Gewerkschaften, ungeachtet ihrer unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Auffassungen, zusammenwirkten.

Am 17. März 1920 mussten die Putschisten aufgeben. Der Generalstreik hatte jede Regierungstätigkeit unmöglich gemacht. »Die Putschregierung in Berlin«, so schilderte es Sebastian Haffner, »war nach drei Tagen Generalstreik ebenso ohnmächtig geworden wie die Exilregierung in Stuttgart. Beide beherrschten nur noch ihre Vorzimmer.« Kapp floh nach Schweden, von Lüttwitz brachte sich in Österreich in Sicherheit.

Die Reichsregierung kehrte nach Berlin zurück. Nun ging es darum, so schnell wie möglich, den Generalstreik zu beenden und »Ruhe und Ordnung« wiederherzustellen. Vor allem galt das für das Ruhrgebiet, wo sich in den Tagen des Kapp-Lüttwitz-Putsches eine Rote Armee mit ungefähr 50 000 bewaffneten und weltkriegserfahrenen Kämpfern gebildet hatte, die in weiten Teilen der Region – insbesondere in den großen Städten – bereits die politische Macht übernommen hatte.

Mit dem »Bielefelder Abkommen« vom 24. März 1920, das eine Reihe von Zugeständnissen an die Ruhrkämpfer enthielt, sollte der Aufstand beendet werden. Doch die weiterhin von einem Sozialdemokraten geführte Reichsregierung war keineswegs gewillt, das Abkommen auch zu erfüllen. Sie entsandte, entgegen den Vereinbarungen, buchstäblich nur Stunden nach der Unterzeichnung Militär in das Ruhrgebiet, um die Aufständischen doch noch gewaltsam niederzuwerfen. Zu den Truppen, die zwischen dem 27. März und dem 12. April 1920 ein unvorstellbares Blutbad mit mehreren Tausend Toten anrichteten, gehörte bezeichnenderweise auch die Marinebrigade Erhardt, die nur Tage zuvor die entscheidende militärische Kraft beim Kapp-Lüttwitz-Putsch gewesen war.

Letzte Änderung: 10. August 2020