Diskussionsbeitrag* - 25. Oktober 2019

»Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System«

Überlegungen zum 30. Jahrestag des Außerordentlichen Parteitags der SED-PDS im Dezember 1989

Im Herbst 1989 befand sich die DDR im Ergebnis grundsätzlicher struktureller Deformationen und einer über Jahre und Jahrzehnte hinweg verfehlten Politik der Führung des Landes in einer existentiellen Krise. Die offiziellen Feierlichkeiten aus Anlass des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober 1989 wirkten in dieser Situation wie der sprichwörtliche »Tanz auf der ›Titanic‹«.

Sichtbarster Ausdruck dieser Krise war die Flucht von hunderttausenden, vor allem jüngeren  Bürgerinnen und Bürgern der DDR in den Westen, die auf der Suche nach Reisefreiheit und scheinbar unbegrenztem Konsum nicht nur ihr bisheriges Lebensumwelt, Freunde und Verwandte, sondern auch die soziale Sicherheit der DDR aufgaben.

Die Führung der SED erging sich in totaler Sprachlosigkeit, sie war unfähig zu einer auch nur in Ansätzen selbstkritischen Reaktion auf die zunehmend drängenden Probleme im Land.

Als Hoffnungszeichen konnten lediglich die überall in der DDR immer zahlreicher werdenden (Montags-) Demonstrationen unter der Losung »Wir sind das Volk« gesehen werden, mit denen seit Anfang September 1989 – und insbesondere seit dem 9. Oktober 1989 in Leipzig – eine ständig wachsende Zahl von Demonstranten, unter ihnen viele Mitglieder der SED, eine demokratische Erneuerung der sozialistischen DDR forderte.[1]

In der Folge setzte sich auch in Teilen des Politbüros die Erkenntnis durch, dass nunmehr personelle und politische Veränderungen zwingend notwendig waren, um eine Eskalation der Lage zu verhindern. Nach Abschluss der offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR wurde daher im Politbüro die Ablösung Erich Honeckers als Generalsekretär und der für Wirtschaft bzw. Medien zuständigen Sekretäre des ZK, Günter Mittag und Joachim Hermann, durchgesetzt. Doch schon die offizielle Begründung für den erzwungenen Rücktritts Erich Honeckers – seine zweifellos vorhandenen gesundheitlichen Probleme – machte deutlich, dass der innere Führungszirkel der SED weder bereit noch in der Lage war, den Ernst der Stunde in vollem Umfang zu begreifen und angemessen, also offen und ehrlich, zu reagieren.

Egon Krenz, der von den westlichen Medien bereits seit Jahren als »Honeckers Kronprinz« gehandelt wurde [2] und ihm am 17. Oktober 1989 tatsächlich im Amt nachfolgte, verspielte seinen ohnehin nicht großen Kredit innerhalb weniger Tage: Nicht nur, dass er sich in seiner ersten öffentlichen Rede im Fernsehen der DDR nicht an die »Bürgerinnen und Bürger der DDR«, sondern an die »Genossinnen und Genossen« wandte und in dieser Rede anmaßend für die Führung der SED in Anspruch nahm, in der DDR »eine Wende eingeleitet« [3] zu haben, sondern auch und vor allem die Tatsache, dass er nicht bereit war, auf das Amt des Staatsratsvorsitzenden zu verzichten und damit ein klares Zeichen gegen eine übermäßige Machtfülle zu setzen, schwächte seine Position und die der bis dahin personell nur wenig veränderten Parteiführung nachhaltig.

Einen Höhepunkt in der Entwicklung des Herbstes 1989 stellte die Großdemonstration von mehreren hunderttausend Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 dar, die ihre Rechte aus den Artikeln 27 und 28 der Verfassung der DDR über Meinungs- und Versammlungsfreiheit praktizierten. Auch hier machte die Teilnahme zahlreicher Mitglieder der SED deutlich, dass der grundlegende Konflikt nicht zwischen der SED und der Bevölkerung, sondern zwischen der Führung der SED und der Bevölkerung, einschließlich weiter Teile der Parteibasis, bestand. Diese Tatsache wurde auch darin deutlich, dass zu den mehr als zwanzig Rednern der Großdemonstration auch Persönlichkeiten gehörten, die als Mitglieder bzw. sogar Repräsentanten der SED – wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße – wahrgenommen und verstanden wurden.

Am 7. November 1989, drei Tage nach der Berliner Großdemonstration, trat Willi Stoph als Regierungschef zurück, die gesamte Regierung der DDR demissionierte.

Vom 8. bis 10. November 1989 fand in Berlin die 10. Tagung des Zentralkomitees der SED statt. Die Tagung nahm den inzwischen unvermeidlichen Rücktritt der alten Führung entgegen und wählte ein neues Politbüro sowie ein neues Sekretariat des ZK. Vor dem Tagungsgebäude hatten sich zu dieser Zeit tausende Mitglieder der SED versammelt. Ihr Protest, stellvertretend für die überwiegende Mehrheit der Parteimitglieder, deren Zahl seit dem 17. Oktober 1989 allerdings dramatisch und in ständig zunehmendem Tempo zurückging, erzwang umgehend die Abberufung einer Reihe von eben gewählten Funktionären, denen insbesondere die neugewählten Ersten Sekretäre der Bezirksleitungen das Vertrauen verweigerten, und die Wahl anderer Mitglieder des Politbüros bzw. des Sekretariats des ZK.

In dieser Situation beschloss die 10. Tagung des ZK die Einberufung der 4. Parteikonferenz der SED für den 15. bis 17. Dezember 1989, obwohl an der Basis der Partei inzwischen massiv die Forderung nach Einberufung eines Außerordentlichen Parteitags erhoben wurde, der nicht nur eine personelle, sondern auch und vor allem eine politisch-moralische Erneuerung der Partei einleiten sollte. In den Abendstunden des 10. November 1989 demonstrierten im Berliner Lustgarten mehr als 150.000 Mitglieder der SED unter der Losung »Wir sind die Partei« ihre Entschlossenheit, sich nicht mit halbherzigen und unzulänglichen Schritten zufriedenzugeben: Die anstehenden Veränderungen mussten mit der Autorität eines Parteitags mit neu zu wählenden Delegierten beraten und beschlossen werden.

Am 13. November 1989 musste das ZK deshalb seinen erst wenige Tage zuvor gefassten Beschluss aufheben und im Rahmen der kurzfristig anberaumten 11. Tagung den von der Parteibasis nachdrücklich geforderten Außerordentlichen Parteitag für den 15. bis17. Dezember 1989 nach Berlin einberufen.

Am 13. November 1989 wurde Hans Modrow von der Volkskammer als Ministerpräsident der DDR gewählt und mit der Regierungsbildung beauftragt. In seiner Regierungserklärung vor dem Parlament der DDR am 17. November 1989 stellte er fest, dass seine Regierung »dem Volk der DDR, das einen guten Sozialismus will, […] verpflichtet« [4] sein werde.

Bis zum 20. November 1989 wurden alle bisherigen Ersten Sekretäre und dreizehn Zweite Sekretäre der Bezirksleitungen unter dem Druck der Parteibasis abgewählt bzw. zum Rücktritt gezwungen. Auch auf der Ebene der Kreise gab es einschneidende Veränderungen – 142 Erste und 97 Zweite Sekretäre hatten ihre Funktion verloren. Doch diese personellen Veränderungen konnten die fortschreitende Selbstauflösung der SED nicht aufhalten: Bis Anfang Dezember 1989 waren bereits 25 Prozent der vormals 2,3 Millionen Mitglieder und Kandidaten aus der SED ausgetreten, 5.000 Grundorganisationen hatten sich aufgelöst.

Parallel zu diesen Entwicklungen hatten verschiedene Ereignisse zu einer weiteren Zuspitzung der innenpolitischen Lage in der DDR geführt. Nachdem Ende Oktober 1989 ein Reisegesetz angekündigt worden war, das es allen Bürgern der DDR erlauben sollte, auch »ohne Vorliegen von Voraussetzungen« in das westliche Ausland zu reisen, war lediglich ein Entwurf vorgestellt worden, der sich als bürokratisches Monster erwies und keinesfalls den allgemeinen Erwartungen und Forderungen nach wirklicher und uneingeschränkter Reisefreiheit entsprach.

Das dilettantische Auftreten Günter Schabowskis auf einer internationalen Pressekonferenz am 9. November 1989, auf der er eine neue, völlig überarbeitete Reiseverordnung, die am nächsten Tag in Kraft treten sollte, als »sofort« und »unverzüglich« geltend ankündigte, führte innerhalb kürzester Zeit zu dramatischen Zuständen an der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin, wo völlig überraschend tausende DDR-Bürger den sofortigen Grenzübertritt begehrten. Nur dem besonnenen Verhalten der Angehörigen der Grenztruppen der DDR war es zu verdanken, dass es an diesem Abend zu keinem Blutvergießen kam, wie überhaupt das von der höchsten politischen Ebene geforderte und durchgesetzte Verbot jeglicher staatlicher Gewaltanwendung, und hier kommt Egon Krenz fraglos ein besonderes Verdienst zu, ein wesentliches Kennzeichen des »Wendeherbstes 1989« war.

In den Tagen nach dem 9. November 1989 nutzten zahllose DDR-Bürger die neugewonnene Reisefreiheit zu Besuchen in der Bundesrepublik und Westberlin. Für die Volkswirtschaft der DDR – für die materielle Produktion, aber auch für Handel und Versorgung und weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – hatte das unmittelbare Folgen, denn zahllose Arbeitsplätze blieben in diesen Tagen leer.

Die plötzliche Reisefreiheit und die ersten Eindrücke, die hunderttausende DDR-Bürger von ihren Besuchen in der Bundesrepublik und Westberlin mitbrachten, gaben jenen Kräften innerhalb und außerhalb der DDR Auftrieb, die die weitere Existenz der DDR grundsätzlich infrage stellten und – nicht zuletzt als unmittelbare Reaktion auf die Politik der Bundesregierung – einen kurzfristigen Anschluss an die Bundesrepublik anstrebten. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde diese Entwicklung insbesondere bei den weiterhin stattfindenden Montagsdemonstrationen sichtbar, wo aus der Losung »Wir sind das Volk«, die für einen erneuerten Sozialismus in einer erneuerten DDR stand, nunmehr die Losung »Wir sind ein Volk« geworden war, die auf die Beseitigung der DDR zielte.

Zeitgleich hatten die Medien der DDR damit begonnen, ihre Rolle als »vierte Gewalt« zu erkennen und mit wachsendem Selbstbewusstsein zu praktizieren. Dazu gehörte, Fälle von Amtsmissbrauch und Korruption in der engeren und erweiterten Partei- und Staatsführung aufzudecken, die in der Bevölkerung – kaum überraschend – für große Empörung sorgten. Am 23. November 1989 berichtete das Jugendfernsehen »Elf99« aus der Waldsiedlung in Wandlitz, wo die in Berlin tätigen Mitglieder des Politbüros und ihre Familien wohnten. Was die Zuschauer des DDR-Fernsehens zu sehen bekamen, waren kleinbürgerliche Wohn- und Lebensverhältnisse, die in keinem Verhältnis zu dem Luxus der »Reichen und Schönen« standen, wie er regelmäßig in den einschlägigen Fernsehsendungen aus der Bundesrepublik präsentiert wurde. Doch der Anspruch, mit dem die Spitzenfunktionäre der DDR angetreten waren, ließ sich auch mit den deutlich bescheideneren Verhältnissen in Wandlitz nicht in Einklang bringen.

Am 1. Dezember 1989 legte der zu diesem Zweck eingesetzte Ausschuss der Volkskammer einen ersten offiziellen Bericht über Privilegien, Machtmissbrauch und Korruption an der Spitze der SED vor. Damit wuchs erneut der Druck auf die Führung der SED, der Zerfall der Partei, der längst dramatische Dimensionen erreicht hatte, beschleunigte sich erneut.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war endgültig klar, dass die alte, auf der 10. Tagung des ZK nur begrenzt veränderte Parteiführung nicht in der Lage war, den Erfordernissen der Zeit entsprechend zu handeln und dass der Fortbestand der Partei akut gefährdet war.

In den Abendstunden des 1. Dezember 1989 machte deshalb eine Gruppe von neugewählten Ersten Bezirkssekretären, zu denen Heinz Vietze und Roland Claus gehörten, gegenüber dem Politbüro ultimativ deutlich, dass die für den 3. Dezember 1989 anberaumte außerordentliche Tagung des ZK nur noch den Rücktritt des Gremiums beschließen könne. Die Vorbereitung des Außerordentlichen Parteitages werde ein Arbeitssauschuss übernehmen, dem ausschließlich Mitglieder angehören würden, die für die grundsätzliche Erneuerung der SED stünden. Weder Politbüro noch ZK dürften Einfluss auf die Zusammensetzung des Arbeitsausschusses nehmen. Diese Positionen bekräftigte die Gruppe am Vormittag des 3. Dezember 1989 auch gegenüber dem Sekretariat des ZK.

Die 12. Tagung des ZK am selben Tag konnte daher nur den Parteiausschluss von Erich Honecker, Erich Mielke, Willi Stoph, Horst Sindermann und weiteren vormaligen Spitzenpolitikern der SED beschließen und anschließend den Rücktritt des gesamten ZK erklären. Am 3. Dezember 1989 um 14.50 Uhr endete die Geschichte der SED.

Der 25köpfige Arbeitsausschuss unter Leitung von Herbert Kroker, seit November 1989 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Erfurt, konstituierte sich wenige Minuten nach dem Rücktritt des ZK. Ihm gehörten vor allem Vertreter der neugewählten Bezirksleitungen und weitere Genossinnen und Genossen an, die sich bereits in den Tagen und Wochen zuvor in unterschiedlichen Positionen für die Erneuerung der Partei engagiert hatten. Gregor Gysi wurde als Mitglied des Arbeitsausschusses mit der Leitung einer Untersuchungskommission zur Überprüfung von Machtmissbrauch und Korruption in der SED beauftragt.

Der Arbeitsausschuss beschloss eine Vorverlegung des Außerordentlichen Parteitages, der nunmehr bereits am 8. Dezember 1989 beginnen sollte. Es wurden mehrere Arbeitsgruppen gebildet, die in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und anderen externen Fachleuten die maßgeblichen Dokumente vorbereiten sollten.

Am 8. Dezember 1989 gegen 19.00 Uhr begann die erste Sitzung des Außerordentlichen Parteitags, an der 2.750 Delegierte und zahlreiche Gäste teilnahmen. Anders als die vorangegangenen Parteitage der SED seit 1976 fand er nicht im repräsentativen Palast der Republik statt, sondern in der zu diesem Zweck kurzfristig umgebauten Dynamohalle im Sportforum Hohenschönhausen. Entgegen den Befürchtungen nicht weniger Delegierter gab es vor und in der Halle keine Protestkundgebungen, dafür ein großes Aufgebot an Presse – mehr als 1.000 Journalisten aus der DDR und dem Ausland hatten sich akkreditieren lassen. Das enorme Interesse der Öffentlichkeit hatte zur Folge, dass der Parteitag zunächst über viele Stunden live im Fernsehen der DDR übertragen wurde.

Vor dem Parteitag stand die Aufgabe, ausgehend von einer klaren und schonungslosen Abrechnung mit der Vergangenheit eine überzeugende politisch-programmatische und personelle Erneuerung der Partei einzuleiten, weil nur so ihr Fortbestand gesichert werden konnte. Und ohne eine moderne, an den Wurzeln erneuerte sozialistische Partei, so die Überzeugung der Mehrzahl der Delegierten, wäre eine Erneuerung des Sozialismus in der DDR, die trotz anhaltender und stärker werdenden Forderungen nach »Wiederherstellung der deutschen Einheit« in ihrem Verständnis noch immer auf der Tagesordnung stand, nicht möglich.

Es gehört zu den großen und bleibenden Leistungen der Delegierten des Außerordentlichen Parteitags, dass bei der notwendigen und unverzichtbaren Auseinandersetzung mit der alten Partei- und Staatsführung klar erkannt und anerkannt wurde, dass es nicht nur auf der höchsten Ebene Verantwortung für die Krise der Partei und der DDR gab. Wohl aus dieser Überlegung heraus stellte in den späten Abendstunden des 8. Dezember 1989 ein Delegierter im Auftrag der ihn entsendenden Parteimitglieder den Antrag, umgehend die Auflösung der SED zu beschließen. Nach einer Beratung der Tagungsleitung wurde der Parteitag, es war inzwischen nach Mitternacht, in geschlossener Sitzung, also ohne Anwesenheit der Medien, fortgesetzt. Es war ohne Frage der Intervention von Hans Modrow zu verdanken, dass sich der Parteitag schließlich einstimmig gegen die Auflösung und für die Erneuerung der Partei aussprach. Hans Modrow hatte vor den Delegierten erklärt: »Wenn bei der Schärfe des Angriffes auf unser Land dieses Land nicht mehr regierungsfähig bleibt, weil mir, dem Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, keine Partei zur Seite steht, dann tragen wir alle die Verantwortung, wenn dieses Land untergeht.« [5]

In der Tat waren der Wunsch nach dem Fortbestand einer erneuerten sozialistischen DDR und das Wissen um die Notwendigkeit einer handlungsfähigen sozialistischen Partei für die übergroße Mehrzahl der Delegierten das entscheidende Motiv, für den Erhalt der Partei zu stimmen. Wenn heute ausschließlich die Sorge um das Parteivermögen und – seltener – die Verantwortung für die zahlreichen hauptamtlichen Mitarbeiter des Parteiapparates als entscheidende Motive genannt werden, so ist das eine tendenziöse Verkürzung, die die zentrale Frage des Außerordentlichen Parteitages – bewusst oder unbewusst – nicht zur Kenntnis nimmt bzw. sogar unterschlägt.

Nach dem Beschluss gegen die Auflösung der Partei, der von den Delegierten mit Jubel und Erleichterung aufgenommen wurde, folgte ein mit sehr großer Mehrheit angenommener Beschluss, der Partei einen neuen Namen zu geben, ohne dass bereits eine Entscheidung über den neuen Namen der Partei fiel.

Der Parteitag wurde bis zum 9. Dezember 1989 um 12.20 Uhr mit der Wahl des 101köpfigen Parteivorstandes und einer 21köpfigen Schiedskommission fortgesetzt. Parteivorsitzender wurde Gregor Gysi, als seine Stellvertreter wurden Hans Modrow, Wolfgang Berghofer und Wolfgang Pohl gewählt. Mit der Leitung der Schiedskommission wurde Günther Wieland beauftragt.

Am 16. und 17. Dezember 1989 setzte der Außerordentliche Parteitag seine Arbeit fort.

Ein inhaltlicher Höhepunkt dieses zweiten Teils des Außerordentlichen Parteitages war das von Michael Schumann am 16. Dezember 1989 vorgetragene Referat »Zur Krise der Gesellschaft und ihren Ursachen, zur Verantwortung der SED« [6], das nicht nur für den Verlauf des Parteitags, sondern für die gesamte weitere Entwicklung der Partei eine Schlüsselfunktion hatte. [7] Denn es galt, den Delegierten und allen Mitgliedern der Partei, aber auch den Bürgern der DDR in ihrer Gesamtheit, eine nachvollziehbare und akzeptable Erklärung für die Entstehung der tiefgreifenden Krise des Sozialismus in der DDR – und über die DDR hinaus – vorzulegen und gleichzeitig Wege zur Überwindung dieser Krise und der Beseitigung ihrer Wurzeln aufzuzeigen.

Die Intension des Referates bestand darin, einen Brückenschlag zwischen dem unerlässlichen Bruch mit einer diskreditierten Parteitheorie und -praxis einerseits und der Wahrung der Kontinuität des sozialistischen Ideals und des Engagements für eine neue sozialistische Gesellschaft andererseits herzustellen. Dabei war es unerlässlich, zunächst reinen Tisch mit Machtmissbrauch, Privilegien, Korruption zu machen und dabei nicht nur deren Symptome, sondern auch und vor allem deren strukturelle, systemische Ursachen offenzulegen. Das ließ sich in der Kürze der Zeit, die auf dem Außerordentlichen Parteitag zur Verfügung stand, nur ansatzweise leisten. Insofern konnte das Referat nur der Auftakt zu einer gründlichen fortdauernden Analyse und Selbstreinigung sein.

In diesem Zusammenhang war es sinnvoll und notwendig, die historische Rückschau bis zu Marx und Engels zurückzuführen, die Oktoberrevolution in Russland differenziert darzustellen, als ein Ereignis von hoher historischer Bedeutung, das aber in eine Entwicklung einmündete, die zur Entstehung eines bürokratisch-zentralistischen Regimes führte, in dem »die humanistischen und demokratischen Werte des Sozialismus ins Gegenteil verkehrt wurden«. [8]

Die Kernaussage »Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System« [9] bezog sich folglich nicht nur und nicht einmal hauptsächlich auf die Person Stalins, auf dessen unmittelbare Verantwortung für die Liquidierung der Opposition, für Massenrepressalien, für die Deformation des Charakters der Partei. Sie bezog sich vielmehr auf die Herausbildung eines Systems, das von vielen Kommunisten akzeptiert und getragen wurde, das nur durch das Mittun vieler funktionieren konnte und das eine Preisgabe des ethischen Gehalts des Marxismus bedeutete. Mithin verlangte die Abkehr vom Stalinismus, sich radikal von der stalinistischen Interpretation der Machtfrage trennen.

Das hatte zwangsläufig auch Konsequenzen für die Bewertung der Geschichte der Kommunistischen Partei Deutschlands, zu der die sogenannte Bolschewisierung der KPD, die Negierung von Errungenschaften der »bürgerlichen« Demokratie, die Sozialfaschismusthese und andere Verirrungen gehörten.

Benannt wurden die Repressalien, die es auch in der DDR gegeben hatte. Dies geschah, ohne den selbstlosen Kampf vieler Menschen für den Sozialismus, ohne die Opferbereitschaft im antifaschistischen Widerstand, ohne den Einsatz für eine antifaschistisch-demokratische und sozialistische Umgestaltung auf deutschem Boden zu negieren. Deshalb lautete ein anderer Schlüsselsatz dieses Dokumentes: »Eine Erneuerung, die das vergäße, die träte mit einer neuen Unmoral an«. [10] Mit anderen Worten – in dem Referat wurde versucht, die Beschreibung und Analyse der akuten Krisensymptome der Endzeit der DDR nicht mit einer Gesamtsicht auf den zurückgelegten Weg der DDR gleichzusetzen.

Trotzdem ist der Begriff »Stalinismus« bis heute umstritten, denn er wird im Verständnis nicht weniger Mitglieder und Sympathisanten der Partei vom Gegner zur Diffamierung und Verächtlichmachung des legitimen Versuchs benutzt, auf deutschem Boden einen friedlichen, sozialistischen Staat zu errichten.  Mit dem Begriff »Stalinismus« werde die vielschichtige Geschichte der DDR einfach weggewischt die DDR auf die Begriffe »Diktatur« und »Unrechtsstaat« reduziert.

Im Referat wurde betont, dass die Entwicklung in der DDR und den übrigen Staaten des »realen Sozialismus« nicht alternativlos gewesen war. Benannt wurden die Korrekturversuche von 1953, die halbherzige Auswertung des XX. Parteitages der KPdSU 1956, das Experiment eines Neuen Ökonomischen Systems, der unverstandene Prager Frühling. Selbst die Ära Honecker wurde differenziert beurteilt, mit positiven Akzenten in der Sozialpolitik und der Außenpolitik und verheerenden Realitätsverlusten und Verkrustungen in der Innen- und Wirtschaftspolitik.

Das führte zur Anerkennung der zwingenden Notwendigkeit einer strikten und bedingungslosen Trennung von Partei und Staat und der prinzipiellen Absage an eine angemaßte Führungsrolle der marxistisch-leninistischen Partei [11] sowie zu einem klaren Bekenntnis zu einem demokratischen Sozialismus.

Mit dem Referat wurden den Delegierten praktische Vorschläge zur Wiedergutmachung unterbreitet. Damit war gemeint: die Rehabilitierung aller Opfer stalinistischer Verfolgung (in der UdSSR und der DDR), das Aufklären aller Einzelschicksale wie auch das Aufdecken von Verantwortlichkeiten, das Angebot zur Mitarbeit in einem unabhängigen Untersuchungsausschuss, die Verpflichtung, den Opfern ein bleibendes Gedenken zu bewahren.

Als Diskussionsfrage wird bestehen bleiben, ob und wann reale Chancen für Alternativen bestanden haben. Dem Referat zufolge waren sie lange gegeben, denn dort hieß es: »1985, als die KPdSU Kurs auf Perestroika und Glasnost nahm, hätte sich wohl noch ein Ausweg eröffnet, wenn unser Land kühn und besonnen auf den Weg der Entstalinisierung geführt worden wäre.« [12] Diese Diskussion ist noch nicht abgeschlossen, auch wenn inzwischen klar ist, dass Perestroika und Glasnost in der unter der Führung von Michail Gorbatschow praktizierten Art und Weise keine Lösung waren. Doch die Suche nach einer Alternative bleibt eine aktuelle Aufgabe, denn sie ist eng mit der Zukunftsfrage verbunden, wie ein moderner Sozialismus, ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts, gestaltet sein kann.

Die Ausführungen zur Krise der Gesellschaft und zur Verantwortung der SED wurden von den Delegierten des Außerordentlichen Parteitages mit größter Aufmerksamkeit und meist tiefer Betroffenheit aufgenommen. Die Diskussion zeugte von großer Zustimmung. Das Referat wurde ohne Gegenstimme bei einer Stimmenthaltung als Arbeitsgrundlage zur weiteren Klärung bestätigt. Das schlug sich später nieder in der Formulierung vom »antistalinistischen Grundkonsens« der PDS. Auf dem Parteitag selbst wurde ein solcher Begriff nicht geprägt.

Dem von Michael Schumann vorgetragenen Referat folgten Ausführungen von Dieter Klein über die »Neuformierung einer modernen sozialistischen Partei und ihren Beitrag für eine neue sozialistische Gesellschaft« und von Gregor Gysi über die aktuellen Aufgaben der Partei »Wir kämpfen für die DDR, für soziale Sicherheit, für Stabilität und Frieden«. Der Beschluss »Für die DDR – für demokratischen Sozialismus« hatte programmatischen Charakter.

Allerdings zeigte sich sehr schnell, dass über viele Gedanken und Überlegungen, die in den Beschlüssen sowie den Referaten und der Diskussion auf dem Außerordentlichen Parteitag formuliert wurden, bereits die Zeit hinweggegangen war. Die deutsche Wiedervereinigung, richtiger: der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, stand inzwischen auf der Tagesordnung der Weltgeschichte. Für die Idee einer sozialistischen Erneuerung der DDR gab es keine tragfähige Basis mehr. Dieser Entwicklung musste auch die SED-PDS [13] Rechnung tragen: Am 1. Februar 1990 unterbreitete Hans Modrow als Ministerpräsident der DDR seine Konzeption »Für Deutschland, einig Vaterland«. Und der 1. Parteitag der PDS am 24. und 25. Februar 1990 tagte bereits unter der Losung »Für eine souveräne DDR im Einigungsprozess«.

Die Ereignisse und Entwicklungen der nachfolgenden Jahre und Jahrzehnte schmälern jedoch in keiner Weise die historische Bedeutung des Außerordentlichen Parteitages. Ohne den vom Parteitag formulierten und von der Basis der Partei getragenen Erneuerungsansatz wäre die deutsche Linke Gefahr gelaufen, innerhalb kürzester Zeit in der politischen Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Dass es heute in der Bundesrepublik mit der Partei DIE LINKE – anders als in vielen anderen Ländern des einstigen »realen Sozialismus« – noch immer eine handlungsfähige moderne sozialistische Partei gibt, ist auch ein Resultat der Arbeit, die die Delegierten des Außerordentlichen Parteitages im Dezember 1989 leisteten.

Dieser Text entstand  unter teilweiser Verwendung einer Ausarbeitung von Prof. Günter Benser [14].

Anmerkungen:

[1] Einen Hinweis darauf, dass auch an der Basis der Partei bereits seit längerer Zeit die Unzufriedenheit mit dem Kurs der Parteiführung wuchs, gab der Beschluss der 8. Tagung des ZK vom 2. Dezember 1988, im Frühherbst 1989 einen »Umtausch der Parteidokumente« durchzuführen. Ein solcher Umtausch war »traditionell« mit dem Ausschluss bzw. der Streichung jener Mitglieder und Kandidaten der SED verbunden, die der offiziellen «Parteilinie« kritisch gegenüberstanden und daher eine »Gefahr« für die »Einheit und Reinheit« der Partei darstellten.

[2] Der Öffentlichkeit war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, dass Krenz bereits einige Monate zuvor von Honecker »kaltgestellt« worden war. Dazu gehörte auch, dass er durch seine Entsendung nach China zur Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Volksrepublik zumindest zeitweise daran gehindert wurde, Einfluss auf die Geschehnisse in der unmittelbaren Führung zu nehmen.

[3] Neues Deutschland, Berlin (DDR), 18. Oktober 1989.

[4] Neues Deutschland, Berlin (DDR), 18. November 1989.

[5] Lothar Hornbogen, Detlef Nakath und Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989, Berlin 1999 (im Weiteren: Protokoll), S. 95.

[6] Protokoll, S. 178 bis 191.

[7] Die Arbeitsgruppe, die das Referat ausgearbeitet hatte, wurde von Heinz Vietze geleitet. Ihr gehörten Markus Wolf und Ulrich Peck als weitere Vertreter des Arbeitsausschusses sowie Günter Benser, Kurt Finker, Karl-Heinz Jahnke, Kurt Libera, Gisela Schott und Michael Schumann an. Zuarbeiten leisteten Manfred Banaschak, Rolf Hoth, Hans Marnette und Hermann Wandschneider.

[8] Protokoll, S. 183 f.

[9] Protokoll, S. 179.

[10] Protokoll, S. 186.

[11] Bereits am 1. Dezember 1989 hatte die Volkskammer mit Zustimmung der Fraktion der SED die »führende Rolle« der SED aus der Verfassung der DDR gestrichen.

[12] Protokoll, S. 190.

[13] Der Außerordentliche Parteitag hatte in einer geschlossenen Sitzung gegen 172 Stimmen, bei 39 Enthaltungen, dem Vorschlag von Gregor Gysi zugestimmt, die Partei künftig SED-PDS zu nennen.  Am 4. Februar beschloss der Parteivorstand den Parteinamen PDS, Partei des Demokratischen Sozialismus.

[14] Günter Benser, Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS – Dezember 1989. Einführung zur Diskussion in der Historischen Kommission, Berlin, 1. November 2014 (www.die-linke.de/partei/parteistruktur/kommissionen/historische-kommission/diskussionsbeitraege/detail/ausserordentlicher-parteitag-der-sedpds-dezember-1989/

* Diskussionsbeitrag für die Sitzung der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE am 26. Oktober 2019

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 19. April 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2019/wir-brechen-unwiderruflich-mit-dem-stalinismus-als-system/