Disput - Oktober 2019

Die große Seele

Vor 150 Jahren, am 2. Oktober 1869, wurde Mohandas Karamchand Gandhi geboren

Es war wahrscheinlich sein Freund Rabindranath Tagore, der Philosoph und Literaturnobelpreisträger, der Mohandas Karamchand Gandhi, den indischen Revolutionär, dessen mächtigste Waffe die Friedfertigkeit war, im Jahre 1915 erstmals öffentlich als »Mahatma«, als »große Seele«, bezeichnete. Gandhi selbst lehnte diesen Ehrennamen stets ab, wie er überhaupt jede öffentliche Ehrung seiner Person zurückwies. Doch letztlich akzeptierte er die Würdigung, durch die sein tatsächlicher Name beinahe in Vergessenheit geriet.

Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 in Porbandar, einer kleinen Hafenstadt im Westen Indiens, als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren, die zur gesellschaftlichen und politischen Oberschicht gehörte. Im Spätsommer 1888 begann er in Großbritannien ein Jurastudium. Nach erfolgreichem Abschluss und Zulassung als Rechtsanwalt an allen Gerichten im britischen Herrschaftsbereich kehrte er Ende 1891 nach Indien zurück. Der Aufenthalt in Europa hatte seine Weltsicht erweitert, denn er hatte sich nun – über den traditionellen Hinduismus hinaus – auch mit dem Christentum, verschiedenen sozialistischen Theorien und anderen Lehren befasst. Mehr noch, Gandhi begeisterte sich zunächst auch für Elemente der westlichen Lebensweise, obwohl er zeitlebens auf Fleisch, Nikotin und Alkohol verzichtete.

Als Anwalt erlebte Gandhi in Indien ein Fiasko. Es gelang ihm nicht, Mandaten zu gewinnen und vor Gericht angemessen zu vertreten. Im Frühjahr 1893 ging er deshalb nach Südafrika. Diese Reise veränderte sein Leben: In Südafrika erlebte er selbst und unmittelbar die Diskriminierung der »farbigen« Bevölkerung. »Die Belästigungen«, schrieb er später, »die ich persönlich hier zu dulden hatte, waren nur oberflächlicher Art. Sie waren nur ein Symptom der tiefer liegenden Krankheit des Rassenvorurteils. Ich musste, wenn möglich, versuchen, diese Krankheit auszurotten.« In den folgenden Jahren widmete er sich daher mit großer Energie dem Kampf gegen die Diskriminierung der indischen Bevölkerung Südafrikas durch die weiße Minderheit. Allerdings verweisen seine Kritiker zu Recht auf die Tatsache, dass ihn die Lage der schwarzen Bevölkerung des Landes, die er damals noch selbst als »minderwertig« betrachtete, nicht interessierte.

Gandhi blieb – mit Unterbrechungen –  mehr als zehn Jahre in Südafrika. Er arbeitete erfolgreich als Rechtsanwalt, gründete eine Zeitung für die indische Bevölkerungsgruppe und beteiligte sich an einem alternativen Siedlungsprojekt. Vor allem aber wurde er sehr schnell zum anerkannten Führer seiner indischen Landsleute in ihrem gewaltlosen Kampf um politische und juristische Gleichstellung. Als 1914 eine Reihe diskriminierender Gesetze aufgehoben wurde, sah er seine Aufgabe als erfüllt an und kehrte nach Indien zurück.

Dort engagiert er sich ab 1915 im Indischen Nationalkongress, einer breiten Bewegung, deren langfristiges Ziel die politische Unabhängigkeit des Landes von Großbritannien war. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich Gandhi zum unbestrittenen moralischen Führer der Bewegung, die unter seinem entscheidenden Einfluss ihren Kampf nahezu ausschließlich mit gewaltfreien Mitteln, zivilem Ungehorsam und Hungerstreiks führte. Zum legendären Ereignis wurde der »Salzmarsch« im März und April 1930, in dessen Ergebnis es den Indern nun erlaubt war, selbst Salz für den eigenen Bedarf zu produzieren.

Nach jahrzehntelangem Kampf wurde Gandhi im Juni 1947 zum sprichwörtlichen Vater der indischen Unabhängigkeit. Es gelang ihm jedoch nicht, die religiöse Spaltung des Landes zu überwinden, in deren Folge sich Pakistan als eigenständiger islamischer Staat von Indien abtrennte. Allerdings war es seinem persönlichen Einsatz zu verdanken, dass der kurzzeitig aufflammende Bürgerkrieg sehr schnell wieder beendet werden konnte.

Am 30. Januar 1948 wurde Gandhi, inzwischen 78 Jahre alt, von einem nationalistischen Hindu ermordet. Der Tradition entsprechend wurde sein toter Körper verbrannt, seine Asche wurde, als besondere Ehre, in verschiedenen symbolträchtigen Gewässern des indischen Subkontinents verstreut.

Es gilt als sicher, dass Gandhi für seinen Beitrag zur indischen Unabhängigkeit den Friedensnobelpreis des Jahres 1948 erhalten hätte und dass nur sein gewaltsamer Tod die Auszeichnung verhinderte. Denn die Statuten des Nobelpreises schreiben eine Vergabe an lebende Persönlichkeiten vor. Daher entschied das Nobelpreiskomitee, den Preis für das Jahr 1948 nicht zu vergeben – die einzige Möglichkeit für das Gremium, Gandhi, die »große Seele«, postum zu ehren.

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 6. Dezember 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2019/die-grosse-seele/