Ausgewählte Artikel - 2016
Deportiert auf eine Trauminsel
Aus Gründen einer zweifelhaften »Staatsräson« wurden im Spätherbst 1940 fast 1600 jüdische Flüchtlinge aus dem hitlerdeutschen Machtbereich als illegale Einwanderer aus Palästina in ein gefängnisgleiches Lager auf Mauritius verbracht.
»Dem individuellen Wurm macht es allerdings wenig Unterschied, ob er systematisch ausgerottet oder nur achtlos zertreten wird.« (Alfred Heller)[1]
Verlauf und Ergebnisse der internationalen Flüchtlingskonferenz von Évian-les-Bains, die auf Initiative von US-Präsident Franklin D. Roosevelt vom 6. bis 15. Juli 1938 in dem französischen Badeort am Genfer See tagte, hatten deutlich gemacht, dass die sogenannten westlichen Demokratien nicht bereit waren, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten – ungeachtet der brutalen Verfolgung, denen diese Menschen dort ausgesetzt waren – in größerer Zahl aufzunehmen.
Die USA beispielsweise hatten eine jährliche Obergrenze von lediglich 27.370 jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland, einschließlich des »angeschlossenen« Österreich, festgelegt, die im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« Aufnahme erhalten durften. Dass die USA entschlossen waren, diese Obergrenze um jeden Preis durchzusetzen, zeigte nicht zuletzt das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge auf der »St. Louis«. Von den knapp 1000 Menschen, die im Frühsommer 1939 vergeblich auf eine Einreisegenehmigung der US-Regierung gehofft hatten, wurden in der Folge mindestens 254 Opfer des deutschen Massenmordes an den europäischen Juden.
Nicht weniger dramatisch war das Verhalten der britischen Regierung, die mit dem »MacDonald-Weißbuch« vom Mai 1939 die legale jüdische Einwanderung nach Palästina, seit 1920 britisches Mandatsgebiet, ohne Rücksicht auf die Lage der Juden im hitlerdeutschen Machtbereich auf ein absolutes Minimum beschränkte. Für einen Zeitraum von fünf Jahren wurde die Einwanderung von lediglich 75.000 Juden – 10.000 Flüchtlinge pro Jahr und weitere 25.000 Flüchtlinge zusätzlich – gestattet. Jede weitere Zuwanderung jüdischer Flüchtlinge sollte von der Zustimmung der arabischen Bevölkerung Palästinas abhängig sein.
Zur selben Zeit setzten die faschistischen deutschen Machthaber auf die massenhafte jüdische Auswanderung aus ihrem Herrschaftsbereich, die spätestens seit der »Reichskristallnacht« vom 9. November 1938 den Charakter einer systematischen Vertreibung angenommen hatte. In den knapp sechs Jahren zwischen der Machtübergabe an die deutschen Faschisten im Januar 1933 und den Pogromen vom November 1938 hatten mehr als 150.000 deutsche Juden ihr Land verlassen. In den zehn Monaten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 erhöhte sich diese Zahl auf insgesamt 226.000 jüdische Flüchtlinge. Hinzu kamen schätzungsweise 134.000 bis 144.000 jüdische Emigranten aus Österreich und dem »Protektorat Böhmen und Mähren«. Alles in allem mussten bis Kriegsbeginn also etwa 360.000 bis 370.000 Juden – Männer, Frauen und Kinder – den hitlerdeutschen Herrschaftsbereich verlassen, das entsprach einem Drittel der jüdischen Bevölkerung dieses Gebietes im Jahre 1933.
Unter diesen Umständen wurde aus Sicht der verantwortlichen Funktionäre der einschlägigen internationalen jüdischen Organisationen die illegale Einwanderung nach Palästina – »illegal« im Verständnis der britischen Regierung und der von ihr eingesetzten Mandatsbehörden – zu einem wesentlichen Faktor im Kampf um das Leben und Überleben einer möglichst großen Zahl jüdischer Flüchtlinge. So hatten zahlreiche Redner auf dem 21. Zionistischen Kongress in Genf im August 1939 angekündigt, dass der illegalen Einwanderung nach Palästina nunmehr eine wachsende und sogar eine entscheidende Rolle zukommen würde.
Es gehört zu den großen Absurditäten der an Absurditäten wahrlich nicht armen Weltgeschichte, dass es in der Frage der illegalen Einwanderung nach Palästina zeitweise gemeinsame Interessen und folglich auch eine – eng begrenzte – Zusammenarbeit zwischen jüdischen Organisationen und den zuständigen deutsch-faschistischen Behörden, insbesondere der Gestapo, gab.
Bereits am 4. März 1939 hatte der erste organisierte illegale Transport von insgesamt 280 Juden aus ganz Deutschland die Reichshauptstadt Berlin mit dem Ziel Palästina verlassen. Eine etwa gleich große Zahl österreichischer Auswanderer schloss sich dem Unternehmen in Wien an. Am 22. April 1939 erreichten die Flüchtlinge die Küste Palästinas und konnten dort mit Hilfe der Hagana[2], der zionistischen paramilitärischen Untergrundbewegung während der britischen Mandatszeit, unbemerkt an Land gehen und in jüdischen Siedlungen untertauchen.
Dieser Transport von illegalen jüdischen Einwanderern aus Deutschland nach Palästina wurde von der Gestapo und den beteiligten jüdischen Organisationen unter dem Decknamen »Sonder-Hachschara«, kurz »S.H.«, vorbereitet.[3] Insgesamt gab es aus Deutschland sieben solcher abenteuerlichen »S.H.«-Fahrten, die für die rund 1.700 Flüchtlinge aus dem »Altreich« allerdings nicht immer glücklich endeten.
Die Zahl der jüdischen Palästina-Auswanderer aus Österreich war wesentlich höher. Das lag nicht nur an der schon frühzeitig von den zionistischen Organisationen des Landes betriebenen systematischen und organisierten Vorbereitung der Alijah, also des »Aufstiegs« in das Land Israel, sondern auch und vor allem an der Tatsache, dass die Gestapo die »Ostmark«, also das okkupierte Österreich, zum Modell der massenhaften Auswanderung oder richtiger: der massenhaften Vertreibung der jüdischen Bevölkerung machen wollte.
Zu diesem Zweck war bereits im August 1938 unter der Leitung von Adolf Eichmann in Wien eine »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« eingerichtet worden. In der Folge verließen zwischen Mai 1938 und Dezember 1940 mindestens 123.500 österreichische Juden ihre vormalige Heimat, allerdings nur etwa 8.900 von ihnen mit dem Ziel Palästina. Ein Jahr später, im Juli 1939, wurde Eichmann nach Prag versetzt und leitete auch dort den Aufbau einer »Zentralstelle für jüdische Auswanderung«. Während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem beurteilte ein Zeuge diese »Auswanderungszentralen« so: »Schrecklich. Ich sagte sofort, das schaut aus so nach einer automatischen Fabrik, so zum Beispiel vielleicht einer Mühle, auf der einen Seite komme eine Jude herein, der noch Besitztümer hat, der noch einen Laden hat oder ein Bankkonto. Er geht durch das ganze Gebäude durch, von Schalter zu Schalter, von Büro zu Büro, auf der anderen Seite kommt er heraus, seiner ganzen Rechte beraubt, seines Geldes, Kapitals beraubt, nur mit einem Paß, auf dem steht: ›Sie haben binnen 14 Tagen das Land zu verlassen, sonst kommen Sie ins Konzentrationslager.‹«[4]
Eine wesentliche Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der massenhaften jüdischen Auswanderung aus dem deutschen Herrschaftsbereich nach Palästina in den Jahren 1939 und 1940 spielte der vormalige Wiener Kommerzialrat Bertold Storfer[5]. Im Auftrag Eichmanns hatte der katholisch getaufte, nach den »Nürnberger Gesetzen« aber jüdische Storfer die Flüchtlingstransporte über die Donau, das Schwarze und das Mittelmeer nach Palästina zu organisieren, wobei die politischen und bürokratischen Vorgaben der Nazibehörden seinen Spielraum bestimmten. Erich Frank, bis Mitte 1940 Leiter des deutschen Hechaluz[6], dann Leiter einer Berliner Flüchtlingsgruppe, gab nach dem Krieg folgende Einschätzung der Rolle Storfers: »Auf der äußersten Grenze der Zusammenarbeit mit der Gestapo, aber zweifellos auf der zulässigen Seite, stand Storfer in Wien [… Er] leitete die jüdische Auswanderungsstelle […], mit Erlaubnis der Gestapo, aber in engster Zusammenarbeit mit [Josef] Löwenherz von der Gemeinde. Wir waren damals gegenüber seiner Tätigkeit sehr skeptisch, aber offenbar zu unrecht.«[7] Löwenherz, der vormalige Direktor der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, hatte bereits im Sommer 1940 in einem Brief an Freunde in New York die Flüchtlingstransporte als eine »ganz gewaltige Leistung« gewürdigt, »deren Vollbringung vornehmlich der Zähigkeit und den unermüdlichen Bemühungen des Herrn Storfer zu verdanken ist«.[8]
Am 28. August 1940 verließ der letzte von Storfer organisierte Flüchtlingstransport, die »S.H.«-Fahrt VII, mit etwa 3.600 Menschen auf vier behelfsmäßig umgebauten Ausflugsschiffen der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft – der »Uranus«, der »Helios«, der »Schönbrunn« und der »Melk« – den Hafen von Bratislava, der Hauptstadt der damaligen Slowakei, mit dem Ziel Tulcea, einer Hafenstadt im Mündungsgebiet der Donau in das Schwarze Meer. Die Angehörigen dieser Flüchtlingsgruppe kamen in ihrer großen Mehrzahl aus Deutschland, dort vor allem aus Berlin und München, aus verschiedenen Teilen Österreichs und aus Danzig. Einige von ihnen, wie die Danziger, hatten ihre frühere Heimatstadt buchstäblich erst Stunden vor der Abfahrt von Bratislava verlassen und waren von der Eisenbahn, die sie an die Donau gebracht hatte, direkt auf eines der vier bereits völlig überfüllten Flußschiffe umgestiegen. Andere hatten in Bratislava in provisorischen Unterkünften, der »Slobodarna« und der »Patronka«, unter elendsten Bedingungen viele Monate auf den Beginn der Reise nach Palästina warten müssen.
Am 10. September 1940 traf der kleine Konvoi in Tulcea ein. Alfred Heller, ein ehemaliger Verleger und Buchdrucker aus München, berichtete: »Im Hafen sah man drei Schiffe, wenn für solche Gebilde diese Bezeichnung noch zulässig erscheint. […] Es mochten ganz alte Frachter sein, mit leuchtenden Holzverschlägen wie von Kistenbrettern, gelb und ungehobelt, die die Reling des Zwischendecks entlangliefen. Auf dem Oberdeck sah man ebensolche Kasten, aus frischen Brettern zusammengezimmert, und ganz hinten hing ein gleicher Holzkasten, in die Luft hinausragend über dem Heck. […] Die Fahrzeuge führten weder Flaggen, noch trugen sie Namen. Aber man sah aus der Entfernung Arbeitsleute darauf beschäftigt und schloß, es möchten wohl Arbeitsschiffe sein, für örtliche Arbeiten, Flußkorrektion oder anderes.«[9]
Doch es handelte sich um jene drei vorgeblich hochseetauglichen Schiffe, die »Atlantic«, die »Pacific« und die »Milos«, mit denen die 3.600 Flüchtlinge die letzte Etappe ihrer Reise, die Überfahrt nach Palästina durch das Schwarze Meer, den Bosporus und das Mittelmeer, zurücklegen sollten.
Die »Atlantic« war das größte der drei Schiffe, ein vormals unter griechischer Flagge laufender Frachter von etwa 1.700 Tonnen. Zwar waren auch schon früher Passagiere auf diesem Schiff mitgereist, doch immer nur höchstens ein paar Dutzend, für die auch entsprechende Bedingungen – Kabinen, Speisesäle, Sanitäreinrichtungen usw. – vorhanden waren. Doch auf den Transport einer so großen Menschenmenge, wie sie die jüdischen Flüchtlinge von der »Helios« und der »Schönbrunn« bildeten, war die »Atlantic« völlig unzureichend vorbereitet. Ähnlich verhielt es sich mit der »Pacific« und der »Milos«, die die Passagiere der »Uranus« und der »Melk« aufnehmen sollten. Beide waren etwa 700 Tonnen groß und ebenfalls Frachtschiffe, die nur wenig für den Transport von Menschen geeignet waren.
Am 14. September 1940 begann das Umsteigen der Passagiere, das ungefähr drei Tage dauerte. Dennoch verließen die drei Schiffe erst am 7. Oktober 1940 den Hafen von Tulcea, denn zunächst musste die Frage der Flagge geklärt werden – es wurde schließlich die Flagge Panamas gesetzt – und es musste eine Mindestzahl von Seeleuten gefunden werden, die bereit waren, auf den drei »Seelenverkäufern« für die Fahrt nach Palästina anzuheuern.
Bei der Abfahrt der drei Schiffe waren weder ausreichend Kohle noch Lebensmittel an Bord. Immer wieder mussten Zwischenstopps eingelegt werden, um die Vorräte zu ergänzen, so in Istanbul und auf der Insel Kreta. Obwohl die Flüchtlinge bereits vor ihrer Abreise horrende Summen für die Überfahrt hatten bezahlen müssen, wurden sie gezwungen, auch diese Kosten zu übernehmen. Doch trotz aller Widrigkeiten traf die »Pacific« am 1. November 1940 im Hafen von Haifa ein, die »Milos« folgte ihr zwei Tage später.
Zu diesem Zeitpunkt lag die »Atlantic« noch immer im Hafen von Heraklion auf Kreta fest. Nach dem Ausbruch des Krieges zwischen Italien und Griechenland war auch das östliche Mittelmeer zum Kriegsgebiet geworden und die Besatzung der »Atlantic« weigerte sich, die Fahrt fortzusetzen. Letztlich übernahmen die Flüchtlinge selbst die Verantwortung für das Schiff und die Weiterreise, ein früherer tschechoslowakischer Offizier und Pilot wurde de facto zum Kapitän der »Atlantic«. Am 7. November 1940 konnte die Fahrt schließlich fortgesetzt werden. Da jedoch noch immer Kohle für eine sichere Überfahrt nach Palästina fehlte und bereits alles Brennbare an Bord verfeuert worden war, um das Schiff in Bewegung zu halten, steuerte die »Atlantic« zunächst Zypern an, wo es erneut einen mehrtägigen Zwangsaufenthalt gab. Erst am 24. November 1940, fast drei Monate nach der Abfahrt von Bratislava, erreichten die 1.600 jüdischen Flüchtlinge an Bord der »Atlantic« die Küste von Palästina. Doch ihr Leidensweg war damit keineswegs beendet.
Die britischen Behörden hatten bereits Anfang September 1940 durch Geheimdienstberichte Kenntnis davon erhalten, dass ein großer jüdischer Flüchtlingstransport auf dem Weg nach Palästina war und dass die mehreren tausend Mitglieder dieses Transports versuchen würden, illegal einzureisen. Dieser Transport, so vermutete man in London und Jerusalem, könnte der Auftakt zu einer ganzen Welle ähnlicher Unternehmen sein, mit denen möglicherweise mehrere hunderttausend illegale jüdische Einwanderer nach Palästina gelangen könnten. In den folgenden Wochen kamen es daher zwischen London und Jerusalem zu einem regen Austausch über das weitere Vorgehen. Es sollte ein Exempel statuiert werden, um weitere illegale Einwanderer dauerhaft abzuschrecken. Am 17. Oktober 1940 verfügte der britische Hohe Kommissar in Palästina, dass alle illegalen Einwanderer für unbestimmte Zeit zu internieren seien, bis über ihr weiteres Schicksal, also ihre Deportation in eine britische Kolonie, entschieden würde.
Zwar hatte der britische Gouverneur von Australien die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Gründen der Machbarkeit abgelehnt, doch aus Mauritius war bereits Ende Oktober 1940 die Aufnahme von etwa 1.500 Flüchtlingen und weiteren 2.500 innerhalb der folgenden sechs Monate zugesagt worden.
Am 13. November 1940 wurde der britische Premierminister Winston Churchill routinemäßig über das Eintreffen des illegalen Flüchtlingstransports in Palästina und über die geplanten Maßnahmen informiert. Churchill, der der zionistischen Bewegung stets aufgeschlossen gegenüberstand, genehmigte die Maßnahmen unter der Voraussetzung, dass die Flüchtlinge »nicht solchen Bedingungen unterworfen würden, denen sie gerade entflohen waren, und dass ihre Behandlung in Mauritius äußerst rücksichtsvoll« sei.[10]
Erst eine Woche später erfuhr Churchill, dass die Unterbringung tatsächlich in einem »Konzentrationslager mit Stacheldraht und Wachen« erfolgen sollte. Er zog daraufhin sein Einverständnis zurück und verlangte, diese Maßnahme erst gegen »künftige illegale Einwanderer anzuwenden und denjenigen, die sich bereits im Lande befinden, nach einer gründlichen Überprüfung den Aufenthalt zu gestatten.«[11]
Doch Churchills Veto kam wenige Stunden zu spät: In Palästina gipfelten die bereits seit Tagen andauernden Proteste der jüdischen Bevölkerung gegen die geplante Deportation ihrer eben eingewanderten Landsleute an diesem 20. November 1940 in einem allgemein befolgten Generalstreik.
In dieser Situation hätte also die Verwirklichung der Direktive Churchills ein im Verständnis der britischen Mandatsbehörden unerträgliches und politisch nicht vertretbares Nachgeben gegenüber den erklärten Forderungen der jüdischen Bevölkerung Palästinas bedeutet. Diesem Gedanken folgte auch Churchill, der am 22. November 1940 bestätigte: »Wenn die Maßnahme bereits angekündigt ist, muß sie auch durchgeführt werden.«[12]
Zu diesem Zeitpunkt waren die Flüchtlinge von der »Pacific« und der »Milos« bereits auf die »Patria« gebracht worden, ein 12.000 Tonnen großes Frachtschiff, das im Hafen von Haifa bereitlag, um die in Palästina offiziell unerwünschten Immigranten nach Mauritius zu transportieren.
Wenige Stunden bevor das Umsteigen der Flüchtlinge von der gerade erst eingetroffenen »Atlantic« beginnen sollte, veränderte ein blutiges Ereignis die Lage: In den Morgenstunden des 25. November 1940 explodierte an Bord der »Patria« eine Sprengladung, die von Aktivisten der Hagana dort platziert worden war. Ihr Plan, das Schiff nur so weit zu beschädigen, dass eine längere Reparatur Zeit für neue Verhandlungen mit der britischen Regierung geben würde, schlug fehl: Die »Patria« sank innerhalb weniger Minuten im Hafen von Haifa, mehr als 200 Menschen fanden den Tod.
Erst jetzt lenkten die britischen Behörden ein. Die Überlebenden der «Patria«-Katastrophe durften als »Schiffbrüchige« nun doch in Palästina bleiben.[13]
Doch für die rund 1.600 Flüchtlinge an Bord der »Atlantic« gab es kein Erbarmen, sie wurden nach Mauritius deportiert, wo sie am 26. Dezember 1940 eintrafen. Ihr »Zuhause« für die folgenden fast fünf Jahre war das ehemalige Zentralgefängnis von Mauritius nahe der Stadt Beau Bassin, ein finsterer Bau, Anfang des 19. Jahrhunderts aus groben Basaltblöcken errichtet. Die Männer wurden in den beiden Zellenblöcken untergebracht, für die Frauen und Kinder entstand innerhalb des Gefängnisses ein Hüttendorf.
Das Lagerregime war nicht absichtsvoll grausam, doch von vielen kleinlichen und schikanösen Regelungen bestimmt, die das ohnehin harte Leben in der Internierung noch schwerer machten. Erst Mitte 1942 beispielsweise wurde die strenge Trennung nach Geschlechtern aufgehoben, durften sich Ehepaare wiedersehen, konnten die Kinder ihre Väter und älteren Brüder treffen. Zeitweise war die Lektüre einheimischer Tageszeitungen verboten, oder es war der Empfang der BBC nicht gestattet. Die Bewegungsfreiheit der Internierten auf der Insel blieb bis weit in das Jahr 1945 durch rigorose Ausgangsbestimmungen eingeschränkt. Die private Post wurde ohne jede Begründung oft monatelang zurückgehalten. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Bekleidung – die meisten Internierten hatten ja auf der Flucht auch das letzte Hab und Gut verloren und besaßen buchstäblich nur noch das, was sie auf dem Leib trugen – war, selbst gemessen an den Bedingungen des Krieges, völlig unzureichend.
Doch das »Schlimmste an der ganzen Internierung ist wohl der seelische Zustand«, schrieb einer der Internierten Anfang 1942 in einem Rückblick auf das erste Jahr auf Mauritius. Und er fuhr fort: »Das Leben hier zehrt und zerrt an den Nerven. Manchmal bedrücken einen die Mauern und das Eingesperrtsein, dann verzehren einen Sorgen um die Angehörigen. Es kommen Depressionszustände, daß man hier die besten Jahre ungenützt verbringt, dann ist einem vor unserer Zukunft bange. Bei manchen äußert sich der Zustand in einer Apathie, andere suchen ihn durch ›Blödeln‹ zu übertauchen. Bei vielen ist eine große Überreiztheit und Nervosität die Folge. Leider tragen wir durch überflüssiges Lärmen viel dazu bei, unsere Nerven zu ruinieren.«[14]
Doch zum Glück gab es unter den Internierten nicht wenige Menschen, die selbstlos dafür Sorge trugen, dass die Internierten faktisch vom ersten Tag ihrer Gefangenschaft an den Unbilden des Alltags auf die unterschiedlichste Art und Weise durch eigenes Handeln entgegentraten. Im Lager entstanden Werkstätten, die für den eigenen Bedarf, aber auch für den einheimischen Markt zum Beispiel Holzspielzeug, Pinsel und Bürsten aller Größen, Gürtel, Schnallen usw. produzierten. Auf einer kleinen Fläche auf dem Gefängnisgelände wurden Obst und Gemüse für den Verbrauch im Lager angebaut. Eine Volksuniversität wurde gegründet, in der hebräischer, englischer und sogar arabischer Sprachunterricht erteilt wurde und in der es Veranstaltungen zur jüdischen Geschichte und Kultur gab. Fast zwei Jahre lang erschienen die »Camp News«, eine mit einfachsten Mitteln produzierte Zeitung, die über das Leben im Lager, aber auch über die Ereignisse in Palästina und auf den Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs berichtete.
Es gab im Camp Ausstellungen mit kunstgewerblichen Erzeugnissen der »Lagerindustrie« und mit Grafiken, die die Geschichte der Flucht und der Internierung in Mauritius erzählten. Für die Kinder und Jugendlichen wurde eine Schule eingerichtet, in der neben den Grundfächern wie Lesen, Schreiben und Rechnen auch Religion, Hebräisch, jüdische Geschichte und Landeskunde Palästinas zum Unterricht gehörten. Im Lager entstand die Zionistische Vereinigung von Mauritius (ZAM), die den Kontakt zu den zionistischen Organisationen in Palästina, Großbritannien und in anderen Teilen der Welt herstellte und so ihren Beitrag für die spätere Rückkehr der Internierten in das Gelobte Land leistete. Die ZAM organisierte Spendensammlungen für den Aufbau des jüdischen Gemeinwesens in Palästina, und sie setzte sich dafür ein, dass Freiwillige aus dem Lager schließlich in der Jüdischen Brigade, einer speziellen Einheit innerhalb der britischen Streitkräfte, Dienst leisten durften.
Ein besonderes Kapitel war die »Politik im Lager«, ein Begriff, der die Zusammenarbeit oder die (zeitweilige) Verweigerung der Zusammenarbeit der Internierten mit der Lagerkommandantur beschrieb. Denn von Anfang an war es das erklärte Ziel der Behörden gewesen, die Internierten in die sogenannte Selbstverwaltung des Lagers einzubeziehen, doch nur in der Absicht, die Verantwortung für bestimmte unangenehme Entscheidungen an die Vertreter der Internierten zu »delegieren«. Aus dieser Konstellation ergab sich ein ständiges Konfliktpotential, das letztlich erst beseitigt wurde, als die Rückkehr der Deportierten nach Palästina bereits beschlossen war. Natürlich waren nicht alle Internierten in die zahlreichen Aktivitäten des Lagerlebens einbezogen, und natürlich gab es auch Zeiten, in denen Apathie und Hoffnungslosigkeit die bestimmenden Faktoren im Camp waren. Doch: »Die guten Elemente«, so zog Aaron Zwergbaum, der Sekretär der ZAM knapp fünfzehn Jahre nach der Rückkehr von Mauritius Bilanz, »waren die deutliche Mehrheit im Lager, und die setzten die Maßstäbe, nach denen unsere Gemeinschaft bewertet werden muß.«[15]
Nach genau 1.692 Tagen endete schließlich die Internierung auf Mauritius. Überglücklich kehrten die Menschen im August 1945 nach Palästina zurück, wo sie als erste größere Einwanderergruppe nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stürmisch begrüßt wurden. Fast sechs Jahre hatte ihre Flucht vor dem Tod gedauert, doch nicht alle waren entkommen: Der Friedhof, den die Internierten auf Mauritius zurückließen, zählte 124 Gräber. Noch heute kann man dort auf den Grabsteinen die Namen lesen: Anita Hirschmann aus München, Julius Elias aus Berlin, Jakob Rittberg aus Dresden, Karl Spitz aus Wien, Bernhard Friedmann aus Danzig…
Anmerkungen
[1] Alfred Heller, Internierter auf Mauritius, in einem undatierten Brief (wahrscheinlich 1944) an einen hochrangigen britischen Regierungsvertreter, in: Alfred Heller, Dr. Seligmanns Auswanderung. Der schwierige Weg nach Israel, München 1990, S. 341.
[2] Wörtlich: Die Verteidigung.
[3] Das hebräische Wort »Hachschara« war die Bezeichnung für »Vorbereitung«, ein Begriff also, der alle Aktivitäten zur »Tauglichmachung« jüdischer Auswanderer auf ihr Leben als künftige Siedler in Palästina beinhaltete. Das »Sonder-« sollte deutlich machen, dass es sich um illegale Einwanderung nach Palästina handelte.
[4] So zitiert in: Friedrich Karl Kaul, Der Fall Eichmann, Berlin (DDR) 1963, S. 327 f.
[5] Geboren 1882 in Czernowitz, ermordet im November 1943 in Auschwitz.
[6] Wörtlich: Der Pionier. Der Hechaluz war ein 1917 gegründeter zionistischer Weltverband zur Vorbereitung und Durchführung der Einwanderung nach Palästina.
[7] Erich Frank, Vorladung der Repräsentanten der jüdischen Dachorganisationen in Berlin, Wien und Prag vor die Gestapo in Berlin (Eichmann) im März 1940; Bericht in der Sitzung des „Kreises von Zionisten aus Deutschland“ am 2. April 1958 in Jerusalem, aufgenommen von Kurt Jakob Ball-Kaduri, in: Kurt Jakob Ball-Kaduri, Illegale Judenauswanderung aus Deutschland nach Palästina 1939/40 – Planung, Durchführung und internationale Zusammenhänge. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv (IV/1975), S. 419ff.
[8] So zitiert in: Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945. Wien und München 1978, S. 224.
[9] Alfred Heller, a.a.O., S. 221 f.
[10] So zitiert in: Michael J. Cohen, Churchill and the Jews, 1900-1948, New York 2013, S. 281.
[11] Ebenda.
[12] Ebenda, S. 282.
[13] Der nachfolgende Abschnitt wurde bereits veröffentlicht unter www.spiegel.de/einestages/juden-auf-mauritius-a-948454.html.
[14] Aaron Zwergbaum, Die Alijah von Bratislava nach Mauritius. Ein Tagebuch, o.O. und o.J. (Mauritius 1941), S. 5.
[15] Aaron Zwergbaum, Exile in Mauritius. In: Yad Vashem Studies, Jerusalem 1960, Bd. IV, S. 191-257, hier: S. 234.
* Jahrbuch des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten
Letzte Änderung: 6. Oktober 2016