www.ronald-friedmann.de
Vorträge
Vortrag - 9. Juli 2016

Das britische Internierungslager für jüdische Flüchtlinge auf Mauritius (1940-1945)

Vortrag im Rahmen der 26. Internationalen Sommerakademie 2016 »In die Häuser schauen. Aspekte jüdischen Wohnens vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert« des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs in Wien

Sehr geehrte Damen und Herren, das Zentralgefängnis von Mauritius nahe der kleinen Stadt Beau Bassin ist ein finsterer Bau aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die nur grob behauenen Basaltblöcke, aus denen es errichtet wurde, zeugen von der vulkanischen Herkunft der winzigen Insel in den Weiten des Indischen Ozeans. Vom 26. Dezember 1940 bis zum 12. August 1945 befand sich hier das Jewish Detainment Camp, ein Internierungslager für ursprünglich fast 1.600 jüdische Flüchtlinge aus dem hitlerdeutschen Machtbereich, denen von den britischen Mandatsbehörden – in Übereinstimmung mit den Festlegungen des Weißbuches von 1939 – die Einwanderung nach Palästina verwehrt worden war.

Die Vorgeschichte ist mit wenigen Worten erzählt.

Angesichts der Tatsache, dass kein Land der Welt bereit war, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und den von Deutschland besetzten Ländern und Gebieten in größerer Zahl aufzunehmen, war die illegale Einwanderung nach Palästina – illegal natürlich nur im Verständnis der britischen Mandatsbehörden – buchstäblich zu einer Frage von Leben und Tod geworden.

Ende August 1940 verließ ein Flüchtlingstreck mit viertausend Menschen Bratislava, das der Treffpunkt mehrerer großer Flüchtlingsgruppen aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und der vormals Freien Stadt Danzig gewesen war. Das Ziel der Reise war Palästina – Erez Israel, das Gelobte Land der Juden.

Die Organisation dieses Unternehmens war das Werk des früheren Wiener Kommerzialrates Berthold Storfer gewesen, der in unmittelbarem Auftrag der Wiener »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« von Adolf Eichmann handelte. Er stand dabei, wie es Erich Frank, bis Mitte 1940 Leiter des deutschen Hechaluz, dann Leiter der Berliner Flüchtlingsgruppe, kurz nach Ende des Krieges formulierte, »auf der äußersten Grenze der Zusammenarbeit mit der Gestapo, aber zweifellos auf der zulässigen Seite.« Und weiter: »Wir waren damals gegenüber seiner Tätigkeit sehr skeptisch, aber offenbar zu unrecht.«[1]

Nach mehrwöchiger Fahrt die Donau hinab - an Bord von vier völlig überladenen früheren Ausflugsschiffen - erreichten die unfreiwillig Reisenden Mitte September 1940 ihr erstes Etappenziel, den rumänischen Schwarzmeerhafen Tulcea. Dort wurden sie auf drei vorgeblich hochseetüchtige Frachtschiffe, die »Pacific«, die »Milos« und die »Atlantic«, umgeladen, die nur notdürftig und völlig unzureichend für den Transport einer so großen Zahl von Menschen vorbereitet worden waren.

Es folgte eine wochenlange Irrfahrt durch das Schwarze Meer, den Bosporus und die Ägäis, bis die drei Schiffe, getrennt voneinander, Mitte bzw. Ende November 1940 die Küste von Palästina erreichten.

Doch der Leidensweg der viertausend Flüchtlinge war damit keineswegs beendet. Denn die britischen Mandatsbehörden in Palästina hatten sich, mit Zustimmung der Regierung in London, zielgerichtet auf die Ankunft der unerwünschten menschlichen Fracht vorbereitet. Sie wollten ein weltweit beachtetes Exempel statuieren, um weitere »illegale« Flüchtlingsgruppen, die sie auf dem Weg nach Palästina wähnten, gründlich und dauerhaft abzuschrecken. Im Hafen von Haifa lag deshalb die »Patria« bereit, ein zum Truppentransporter umgebautes ehemaliges französisches Passagierschiff, mit dem die illegalen Einwanderer, die eben erst Palästina erreicht hatten, umgehend nach Mauritius deportiert werden sollten.

Die »Passagiere« der »Pacific« und der »Milos« waren bereits umgestiegen, als in den frühen Morgenstunden des 25. November 1940 die »Patria« nach einer Bombenexplosion im Hafen von Haifa unterging. 260 Menschen fanden dabei den Tod.

Kämpfer der Hagana, einer zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation, hatten die Bombe an Bord geschmuggelt, um durch eine dosierte Explosion – so der Plan – die »Patria« fahruntüchtig zu machen. Auf diese Weise sollte die Deportation der Flüchtlinge verhindert oder zumindest verzögert werden. Doch ganz offensichtlich hatten die zionistischen Aktivisten die Sprengkraft ihrer selbstgebauten Bombe dramatisch unterschätzt.

In einem Akt der »Gnade«, wie die britischen Mandatsbehörden ausdrücklich betonten, wurde den Überlebenden der »Patria« als »Schiffbrüchigen« nun doch noch gestattet, in Palästina zu bleiben.

Für die Menschen an Bord der »Atlantic« allerdings, die noch auf ihre Verladung auf die »Patria« gewartet hatten und dabei Augenzeugen der Katastrophe und des Sterbens ihrer Leidensgefährten geworden waren, gab es kein Erbarmen – aus Gründen einer höchst zweifelhaften Staatsräson wurde ihre Deportation nach Mauritius vollzogen.

Nach mehrwöchiger Fahrt an Bord zweier holländischer Frachtschiffe, die von den britischen Mandatsbehörden kurzfristig für diesen Zweck gechartert worden waren, trafen die knapp 1.600 Deportierten, die detainees, wie sie fortan im allgemeinen Sprachgebrauch genannt wurden, am 26. Dezember 1940 im Hafen von Port Louis, der Hauptstadt von Mauritius, ein. Von dort wurden sie mit Bussen in das etwa zwölf Kilometer entfernte Gefängnis von Beau Bassin gebracht, das ihr »Zuhause« für die nächsten fast fünf Jahre sein sollte.

Der Betrieb des Jewish Detainment Camp, wie das Zentralgefängnis von Mauritius nun offiziell hieß, wurde in der Anfangsphase ausschließlich von den britischen Behörden finanziert. Der äußerst knapp bemessene Haushalt wurde jedoch sehr schnell durch lagereigene »Steuern« ergänzt, also Abgaben, die die detainees auf ihre eigenen, sehr bescheidenen Einnahmen zu leisten hatten. (Auf diesen Punkt, die »Einnahmen« der detainees, komme ich noch an anderer Stelle zurück.) Und auch Spenden, die zum Beispiel von der Jüdischen Gemeinde in Südafrika kamen, wurden nicht als zusätzliche Leistungen an die detainees weitergegeben, sondern zur Deckung des Grundbedarfes an Lebensmitteln und Bekleidung verwendet. Die Internierten hatten also einen zunehmend größeren Teil der Kosten ihrer Internierung selbst zu tragen.

Das Jewish Detainment Camp umfasste eine Fläche von etwa fünf Hektar und war von einer massiven, fast fünf Meter hohen Steinmauer umgeben.

Die Zellenblöcke A und B, zwei mehr als einhundert Meter lange Gebäude mit jeweils 340 Zellen, dienten als Männerlager. Die Zellen waren nur etwa vier Quadratmeter groß, sie hatten kleine vergitterte, aber nicht verglaste Fenster. Elektrisches Licht gab es nicht, einzige Lichtquelle waren Kerzen und Öllampen. Anfangs waren die Zellen nur mit einer einfachen Hängematte ausgestattet. Schränke, Betten, Tische und Stühle kamen erst später in die Zellen.

Im Normalfall wurde jede Zelle von nur einem Mann »bewohnt«. Lediglich im Block A gab es einige Doppelzellen.

Die Zellentüren wurden grundsätzlich nicht abgeschlossen, trotzdem wurde die Unterbringung in einer Gefängniszelle von den meisten Internierten als demütigend und erniedrigend empfunden. Sehr schnell bemerkte man jedoch, dass die Gefängniszellen ein gewisses Privatleben erlaubten, ein sehr angenehmer Gegensatz zu dem erzwungenen monatelangen Leben in einer keineswegs selbstgewählten Gemeinschaft, das jede Privatheit unmöglich gemacht hatte.

Im Männercamp gab es einen kleinen »Erholungsbezirk«, den »recreation ground«, mit Bäumen und einem Stück Wiese, was die triste Gefängnisatmosphäre bedeutend auflockerte.

Bereits wenige Tage nach der Ankunft auf Mauritius richteten die Internierten im Männerlager eine orthodoxe und eine – deutlich größere – liberale Synagoge ein.

Das Frauenlager war außerhalb des eigentlichen Gefängnisses angelegt worden, jedoch ebenfalls von einer hohen Mauer umgeben und sowohl von der Außenwelt als auch, zumindest in den ersten Jahren, vom Männerlager nahezu hermetisch abgetrennt.

Für die weiblichen Internierten waren etwa dreißig Wellblechhütten errichtet worden, die in ihrer Mehrzahl nicht in einzelne Räume unterteilt waren. So mussten auch hier wieder 20 bis 25 Menschen in einem einzigen Raum leben. Die Einrichtung beschränkte sich zunächst auf einfache Betten, anfangs gab es für je zwei Frauen nur einen Spind. Grob gezimmerte lange Bänke, wie im Speisesaal einer Kaserne oder eben eines Gefängnisses üblich, »vervollständigten« das Mobiliar.

Während der heißen Jahreszeit heizte sich das Wellblech stark auf und verstärkte die für Mitteleuropäer ohnehin kaum erträgliche Hitze noch mehr. Und während der Regenzeit erzeugte der heftig fallende Regen einen unvorstellbaren Lärm, der den Bewohnerinnen der Hütten buchstäblich den Schlaf raubte und eine Unterhaltung in normaler Lautstärke unmöglich machte. Jede der Hütten hatte eine Dusche, und für jeweils drei Hütten, mit insgesamt etwa 70 bis 75 Bewohnerinnen, waren zwei Toiletten vorhanden. Andere Hütten dienten als Werkstätten, und in einer weiteren Hütte wurde die Schule für die Kinder des Lagers eingerichtet.

Zum Lager gehörten außerdem mehrere kleine Steinhäuser, in denen die Kommandantur, weitere Werkstätten, Lagerräume, die Kantine und andere Einrichtungen, darunter der berüchtigte Block C mit den Arrestzellen, dem »Gefängnis im Gefängnis«, untergebracht waren.

Die sanitären Einrichtungen, also Waschgelegenheiten und Toiletten, befanden sich anfangs in einem guten Zustand, der sich jedoch im Laufe der Jahre zum Teil dramatisch verschlechterte. Ihre Säuberung und Instandhaltung, soweit dafür finanzielle und materielle Mittel durch die Lagerverwaltung bereitgestellt wurden, oblag während der gesamten Zeit den einheimischen Angestellten des Jewish Detainment Camp.

Außerhalb der Gefängnismauern, aber ebenfalls zum Camp gehörend, gab es einige Tausend Quadratmeter landwirtschaftlicher Nutzfläche, die vor allem für den Obst- und Gemüseanbau genutzt wurden. Die Erzeugnisse der lagereigenen Landwirtschaft, in der zeitweise mehr als hundert Internierte beschäftigt waren, trugen wesentlich zur Versorgung der Menschen im Lager bei.

Auch das Lagerkrankenhaus war außerhalb des eigentlichen Lagers, etwa einen halben Kilometer entfernt, eingerichtet worden. Dort arbeitete nicht nur einheimisches Personal, sondern auch Ärzte sowie Pflegerinnen und Pfleger, die als detainees auf die Insel gekommen waren.

Als äußerst dringlich erwies sich bereits in den ersten Januartagen 1941 die Anlage eines eigenen jüdischen Friedhofes. Denn eine schwere Typhusepidemie, die bereits auf der »Atlantic« ausgebrochen war und die während des kurzen Aufenthaltes in Palästina nicht ausreichend bekämpft wurde, forderte auch auf Mauritius weitere Todesopfer. Allein in der Nacht zum 23. Januar 1941 starben sechs Menschen, im gesamten Jahr 1941 betrug die Zahl der Toten 54.

Für sie wurde auf einer nur wenige hundert Quadratmeter großen Fläche nahe des Camps, am Rande des Friedhofes St. Martin, wo es bereits Bestattungen nach christlichem, muslimischem und hinduistischem Zeremoniell gab, ein eigener Begräbnisplatz angelegt. Bis zum heutigen Tag trägt der Eingang zu diesem Friedhof die traditionelle Inschrift »Blessed Be The True Judge« und die Jahreszahlen »1940-1945«.

Ebenfalls in den ersten Januartagen 1941 bildete sich eine Chewra Kadischa, eine traditionelle jüdische Bestattungsgesellschaft, deren Mitglieder bemüht waren, auch unter den widrigen Bedingungen des Lagerregimes den Toten einen würdigen Abschied zu bereiten.

Als die Deportierten im August 1945 Mauritius verließen, gab es auf dem Friedhof 126 Gräber. Zu den Toten, die dort ihre letzte Ruhestätte fanden, zählte auch – diese persönliche Bemerkung sei mir an dieser Stelle gestattet – mein Großvater Bernhard Friedmann, der am 15. März 1943, wenige Tage vor seinem 49. Geburtstag, auf Mauritius starb. Sein mir lange Zeit unverständliches Schicksal war es, das mich letztlich dazu veranlasste, mich gründlicher mit der Geschichte und Vorgeschichte des Jewish Detainment Camp auf Mauritius zu befassen.

Zurück zum Thema: Vor den 1.581 Internierten, die in den letzten Dezembertagen 1940 das Jewish Detainment Camp auf Mauritius »bezogen« hatten – 850 Männer, 635 Frauen und 96 Kinder unter 13 Jahren – lag eine in jeder Hinsicht ungewisse Zukunft. Ihre Deportation aus Palästina war unter der Maßgabe erfolgt, dass ihre Internierung bis zum Ende des Krieges andauern würde und dass sie auch nach Kriegsende keine Erlaubnis erhalten würden, sich in Palästina niederzulassen.

Schon in seinem Rückblick auf das erste Jahr auf Mauritius musste Aaron Zwergbaum, der langjährige Sekretär der Zionistischen Vereinigung von Mauritius, die im Januar 1941 von den detainees gegründet wurde und die bis zu ihrer Rückkehr nach Palästina im August 1945 bestand, deshalb feststellen: »Das Schlimmste an der ganzen Internierung ist wohl der seelische Zustand. Das Leben hier zehrt und zerrt an den Nerven. Manchmal bedrücken einen die Mauern und das Eingesperrtsein, dann verzehren einen Sorgen um die Angehörigen, es kommen Depressionszustände, daß man hier die besten Jahre ungenützt verbringt, dann ist einem vor unserer Zukunft bange. Bei manchen äußert sich der Zustand in einer Apathie, andere suchen ihn durch ›Blödeln‹ zu übertauchen. Bei vielen ist eine große Überreizheit und Nervosität die Folge.«[2]

Für die Internierten in ihrer Gesamtheit war es entscheidend, dass sich in jedem Augenblick der langen Lagergeschichte Menschen fanden, die selbstlos bereit waren, sich für die Gemeinschaft einzusetzen.

Dazu gehörten die Repräsentanten der Internierten bei den Lagerbehörden – Stichwort »Politik im Lager«, charakterisiert durch den Zustand der »cooperation« und der »non-cooperation«. Ein Thema, dessen Erörterung einen eigenen Vortrag wert wäre.

Dazu gehörten die Führungsmitglieder der Zionistischen Vereinigung, die Lehrerinnen und Lehrer der Lagerschule sowie der Volkshochschule, die etwa ein Jahr lang bestand und mehr als zwanzig Kurse in ihrem Angebot hatte – von jüdischer Geschichte und Religion über Geographie bis zu Mathematik. Die Sprachkurse – vor allem Iwrith und Englisch, aber auch Französisch und sogar Arabisch – blieben während der ganzen Zeit der Internierung gefragt.

Und dazu gehörten die Ärzte und Pflegerinnen und Pfleger im Lagerkrankenhaus sowie die Mitglieder der Chewra Kadischa, um nur einige Beispiele zu nennen.

Das Lagerregime war, wie Aaron Zwergbaum viele Jahre später schrieb, »nicht absichtsvoll brutal oder schikanös, aber in nicht wenigen Teilen dazu angetan, die detainees zu verbittern und ihr Leben ohne jede Notwendigkeit noch elender zu machen, als es aus den objektiven Bedingungen heraus ohnehin schon unvermeidlich war.«[3]

Als ein besonders schwerwiegendes Problem erwies sich sehr schnell, dass die Internierten zu keinem Zeitpunkt – sei es in schriftlicher oder mündlicher Form – darüber in Kenntnis gesetzt worden waren, auf welcher rechtlichen Grundlage das Vorgehen gegen sie basierte und ob und welche Rechtsmittel ihnen gegebenenfalls zur Verfügung standen.

Diese de facto rechtlose Situation hatte für die Internierten nicht nur unmittelbare Folgen hinsichtlich ihrer Verbringung nach Mauritius, sondern auch für die konkreten Umstände ihres Lebens in der Internierung: Auf keine der als »Privilegien« bezeichneten Selbstverständlichkeiten, so zum Beispiel die regelmäßig auf wenige Stunden beschränkten »Ausgänge auf Ehrenwort« in die Stadt oder den Briefverkehr mit Angehörigen und Freunden, hatten sie einen einklagbaren Rechtsanspruch. Auch ihre zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit war ohne jede gesetzliche Grundlage eingeschränkt: So durften sie, zumindest in der Anfangsphase der Internierung, weder standesamtlich heiraten noch sich scheiden lassen. Und auch in strafrechtlichen Angelegenheiten, zum Beispiel bei gelegentlichen Diebstählen im Lager, war ausschließlich der britische Lagerkommandant kraft seiner disziplinarischen Befugnisse zuständig, nicht aber ein ordentliches Gericht auf Mauritius.

Die von den Internierten am schmerzhaftesten empfundene Beschränkung war ohne Frage die – zumindest in den ersten Jahren – rigoros praktizierte Geschlechtertrennung, die auch auf Familien und Ehepaare keine Rücksicht nahm.

Das Tor, das das Frauen- und das Männerlager trennte, war für lange Zeit ein beinahe unüberwindliches Hindernis. Nur mit Erlaubnis des Lagerkommandanten und gegen Vorlage eines entsprechenden Passes war es den Internierten möglich, das jeweils andere Lager zu betreten. Dadurch wurde nicht nur das zeitweise sehr vielfältige kulturelle Leben im Lager behindert – Veranstaltungen mussten jeweils zweimal – im Männerlager und im Frauenlager – durchgeführt werden. Und es kam nicht selten vor, dass die Akteure keine Genehmigung erhielten, im jeweils anderen Lager aufzutreten. Schlimmer noch waren die gelegentlich tragischen, ja grausamen Konsequenzen, die sich aus der Trennung ergaben: Überliefert ist der Fall eines Mannes, der nach langer schwerer Krankheit, also keineswegs plötzlich und unerwartet, starb, ohne dass ihn seine Frau noch einmal besuchen durfte.

So war die Einführung eines sogenannten Familienlebens eine vordringliche und immer wieder vorgebrachte Forderung der Internierten. Im Januar 1942 musste sich sogar das britische Parlament mit diesem Aspekt des Lebens im Internierungslager von Beau Bassin befassen, und der Innenminister erklärte schließlich im Unterhaus, dass die Schaffung von Voraussetzungen dafür, dass Ehepaare zusammen leben könnten, kein Luxus, sondern eine selbstverständliche Angelegenheit sei.

Am 11. Juli 1942, nach langen und zähen Verhandlungen mit dem Lagerkommandanten, trat eine allgemein akzeptierte Regelung für das »Familienleben« in Kraft: Verheiratete Frauen konnten ihre Ehemänner, und Mädchen unter 13 Jahren ihre Väter, täglich von 11 bis zunächst 18 Uhr, dann später von 9 bis 21 Uhr, im Männerlager besuchen.

Diese Regelung veränderte das Leben im Männerlager grundlegend: Die Zellen der verheirateten Männer, die bis dahin mehr oder weniger dem Klischee von vernachlässigten Junggesellenbuden entsprochen hatten, wurden durch die ordnende Hand der Frauen zu beinahe richtigen Wohnzimmern. Es wurde gekocht und sogar gebacken, denn die meisten Frauen waren nun bemüht, eine eigene Hauswirtschaft zu führen.

Das Familienleben brachte sehr schnell ein soziales Leben mit sich: Ehepaare luden sich gegenseitig ein, und auch an ledige Männer ergingen immer wieder Einladungen, um sie zumindest kurzzeitig von ihrem Alleinsein abzulenken. Vielen Familien war es wichtig und nun möglich, den Sabbat gemeinsam zu feiern.

Diese teilweise Normalisierung des Lebens für die Familien und Ehepaare trug allerdings dazu bei, dass die unverheirateten Männer und Frauen im Lager ihre Lage als noch trauriger und hoffnungsloser empfanden. Für sie gab es offiziell bis zum letzten Tag der Internierung keine dem Familienleben vergleichbaren Erleichterungen.

Bei ihrer Ankunft auf Mauritius herrschte unter den Internierten, wie es der bereits zitierte Aaron Zwergbaum formulierte, eine »absolute soziale und ökonomische Gleichheit, weil praktisch niemand mehr irgendwelches Geld besaß.«[4]

Das änderte sich sehr schnell. Zunächst gab es die »Kapitalisten«, die durch Überweisungen von Verwandten oder Freunden aus Palästina oder anderswo kleinere oder größere Geldsummen zu ihrer Verfügung hatten. Eine zweite Gruppe waren die Beschäftigten in den Werkstätten und Büros des Internierungslagers, die zwar offiziell ohne Bezahlung arbeiten mussten, aber ein kleines Taschengeld als Vergütung erhielten.

Spätestens mit der Einführung des »Familienlebens« entstand eine dritte Gruppe, die aus eigener »marktwirtschaftlicher« Initiative Dienstleistungen gegen Bezahlung anbot: Es entstanden Wäschereien, kleine Werkstätten, in denen zum Beispiel Süßwaren und Konfitüren, aber auch Gegenstände des täglichen Bedarfs, hergestellt wurden. Sogar kleine Kaffeestuben eröffneten, und auch die Schuster, Schneider und Friseure, die eigentlich unentgeltlich zu arbeiten hatten, bevorzugten nun jene »Kunden«, die für ihre Dienstleistungen bezahlten. Selbst der Verkauf von heißem Wasser an Internierte, die sich Tee oder Kaffee bereiten wollten, aber keinen eigenen Kocher besaßen, brachte noch einen kleinen Gewinn.

Viele Internierte fanden im Laufe der Zeit Arbeit in der »Lagerindustrie«, deren Produkte, zum Beispiel die Möbel für die Unterkunftsräume, zunächst nur innerhalb des Lagers Verwendung fanden. Doch sehr schnell umfasste der »Markt« für die Erzeugnisse der »Lagerindustrie« nicht mehr nur das Camp, sondern es wurden nun auch Produkte für den Verkauf auf der ganzen Insel hergestellt. Allerdings beschränkten die Behörden die Internierten durch die Auflage, nur solche Produkte außerhalb des Lagers anzubieten, die nicht durch einheimische Unternehmen hergestellt werden konnten.

Besonders erfolgreich war die Fertigung von Holzspielzeug. In der Vorweihnachtszeit waren bis zu 30 Personen in der entsprechenden Werkstatt des Männerlagers beschäftigt. Andere begehrte Produkte der »Lagerindustrie« waren Pinsel aller Art. Die Palette reichte vom einfachen Rasierpinsel bis zu großen Pinseln und zu Bürsten für Reinigungsarbeiten. Im Frauenlager etablierte sich die Herstellung von Gürteln und Gürtelschnallen (zumeist aus einheimischem Schildpatt) sowie von einfachen Miederwaren, Taschen und Handtaschen.

Im Verlaufe des Jahres 1943 wurden im Lager eine Autowerkstatt und eine Tischlerei eingerichtet, in denen nahezu ausschließlich für den Bedarf der auf Mauritius stationierten Einheiten der britischen Marine gearbeitet wurde. Sehr zur Freude der detainees, die darin eine Möglichkeit sahen, die alliierten Kriegsanstrengungen zu unterstützen.

Die Arbeit war im Lager nicht nur eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, mit dem man zum Beispiel zusätzliche Lebensmittel kaufen konnte. Sie half, zumindest für ein paar Stunden am Tag, dem Einerlei des Lagerlebens zu entgehen. Es zeigte sich, dass nicht die »Kapitalisten«, die ihr Geld von außerhalb, ohne eigenes Zutun, erhielten, in der glücklicheren Position waren. Es waren die »Arbeiter«, die nicht nur über Geld, wenn auch nur sehr geringe Summen, verfügten, sondern auch den psychologischen Vorteil sinnvoller Beschäftigung in den Jahren sinnloser Internierung hatten.

Und ein weiterer Aspekt ist bemerkenswert: Durch die Erfordernisse der »Lagerindustrie« vollzog sich innerhalb der vergleichsweise kleinen Gemeinschaft der Internierten auf Mauritius eine Entwicklung, mit der sich – in wesentlich größerem Maßstab – alle jüdischen Emigranten konfrontiert sahen, die sich in Palästina dauerhaft niederlassen wollten: Die (Berufs-) Umschichtung. Um überhaupt Arbeit finden zu können, mussten die detainees in der Mehrzahl der Fälle ihren alten Beruf als Kaufleute, Anwälte, Ingenieure, Ärzte oder auch Lehrer aufgeben und sich neuen, zumeist handwerklichen, aber auch landwirtschaftlichen Professionen zuwenden.

Allerdings war für die Mehrzahl der Flüchtlinge, die im August 1940 gemeinsam Bratislava verlassen hatten, Palästina nicht wirklich das »Ziel ihrer Träume« gewesen. Es gab unter ihnen nur sehr wenige überzeugte – und auf das Leben in Palästina vorbereitete – Zionisten , die bereit waren, große Strapazen und Entbehrungen zu ertragen, um in Palästina ihren Beitrag zum Aufbau der »Heimstatt des jüdischen Volkes« zu leisten. Für die Mehrzahl der Flüchtlinge war das Exil in Palästina die einzige Möglichkeit gewesen, dem faschistischen Terror in ihren vormaligen Heimatländern zu entkommen.

Doch im Auftreten der Internierten gegenüber den britischen Behörden und ihren Vertretern auf Mauritius war es stets das erklärte Ziel gewesen, gemeinsam nach Palästina zurückzukehren. Und als im Juni 1945 die Leitung der Zionistischen Vereinigung von Mauritius die Internierten offiziell über ihr künftiges Reiseziel befragte, erklärten nun tatsächlich 81 Prozent, dass sie sich endgültig in Palästina niederlassen wollten, fünfzehn Prozent waren unentschlossen, und nur vier Prozent gaben aus unterschiedlichen Gründen an, in ein anderes Land reisen zu wollen. Von diesen vier Prozent hatten etwa 40 Personen den Wunsch, nach Österreich zurückzukehren, und 20 Personen wollten wieder in die Tschechoslowakei. Doch niemand nach Deutschland oder Polen.

Zu diesem Zeitpunkt war die Freilassung der Internierten bereits beschlossene Sache, und auch die Rückkehr nach Palästina war ihnen offiziell gestattet worden: Am 21. Februar 1945 waren die Mitglieder des Camp Committee, also die Repräsentanten der Internierten bei der britischen Lagerverwaltung, und die Vertreter der Zionistischen Vereinigung von Mauritius zum Gouverneur von Mauritius bestellt worden, der ihnen offiziell einen Beschluss der britischen Regierung übermittelte: »Die Regierung Seiner Majestät in Großbritannien und die Regierung von Palästina haben beschlossen, dass es den jüdischen Flüchtlingen, die sich gegenwärtig in Mauritius aufhalten, erlaubt wird, nach Palästina einzureisen, sobald die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind. Es können keine Aussagen darüber gemacht werden, wann das der Fall sein wird, denn die Transportprobleme sind beträchtlich und Verzögerungen daher unvermeidlich.«[5]

Solche Verzögerungen gab es tatsächlich, doch am 12. August 1945 bestiegen die 1.310 verbliebenen Flüchtlinge im Hafen von Port Louis die »Franconia«, das Schiff, das sie nach Palästina bringen sollte.

Die Menschen an Bord der »Franconia« waren die erste große Flüchtlingsgruppe, die Palästina nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreichte. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit, die ihre Rückkehr im ganzen Land erregte.

Für die ehemaligen Internierten aus Mauritius waren überall in Palästina Unterkünfte vorbereitet worden. Hunderte Menschen kamen in Kibbuzen oder bei Verwandten und Freunden unter. Für vierhundert Familien standen bescheidene Wohnungen in allen Teilen des Landes bereit. In Holon zum Beispiel, südlich von Tel Aviv, war eine kleine Siedlung mit einfachen Häusern entstanden, deren Straßen bis heute so klangvolle Namen tragen wie »Hagdud Haivri« – »Straße der Jüdischen Brigade«. Doch das ist bereits ein neues Kapitel in der Geschichte des »jüdischen Wohnens vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert«.

Ich danke Ihnen.


[1] Erich Frank, Vorladung der Repräsentanten der jüdischen Dachorganisationen in Berlin, Wien und Prag vor die Gestapo in Berlin (Eichmann) im März 1940, Bericht in der Sitzung des »Kreises von Zionisten aus Deutschland« am 2. April 1958 in Jerusalem, aufgenommen von Kurt Jakob Ball-Kaduri, als "Dokument II" in: Kurt Jakob Ball-Kaduri, Illegale Judenauswanderung aus Deutschland nach Palästina 1939/40 - Planung, Durchführung und internationale Zusammenhänge, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, Band IV (1975), S. 387-422, hier: S. 419.

[2] Aaron Zwergbaum, Die Alijah von Bratislava nach Mauritius. Ein Tagebuch, o.O. (Beau Bassin) und o.J. (1941), S. 5 (Kopie des Manuskripts in meinem Archiv).

[3] Aaron Zwergbaum, Exile in Mauritius, in: Yad Vashem Studies, Jerusalem, Band IV (1960), S. 191-257, hier: S. 211.

[4] Ebenda, S. 229.

[5] So zitiert in: Ebenda, S. 253.

Letzte Änderung: 16. Dezember 2020