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Ausgewählte Artikel - 2016
Arbeit – Bewegung – Geschichte - Juni 2016

Crossing the River

Rezension zu: Victor Grossmann, Crossing the River. Vom Broadway zur Karl-Marx-Allee: Eine Autobiographie, Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2014

Er sei, so schrieb Victor Grossman einmal an anderer Stelle, »der einzige Mensch auf der Welt, der sowohl an der Harvard University als auch an der Karl-Marx-Universität ein Diplom erworben« habe. Tatsächlich hat der inzwischen 87jährige geborene US-Amerikaner, der mehr als fünfunddreißig Jahre in der DDR lebte und arbeitete, über ein außergewöhnliches Leben zu berichten. Und er tut das ebenso informativ wie unterhaltsam und, nicht zu vergessen, einer gehörigen Portion Witz.

Geboren 1928 in New York als Sohn eines Kunsthändlers und einer Bibliothekarin, wird Grossman, der damals noch Stephen Wechsler heißt, 1942 Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes und 1945 Mitglied der Kommunistischen Partei der USA. Im selben Jahr beginnt er an der renommierten Harvard University ein Studium der Wirtschaftswissenschaften und der Geschichte, das er 1949 mit dem eingangs erwähnten Diplom abschließt. Hier nun der erste Bruch: Statt eine Laufbahn einzuschlagen, die seiner akademischen Ausbildung entspricht, geht er im Auftrag seiner Partei als einfacher Arbeiter in eine Fabrik, weil es unter den Parteimitgliedern zu wenige Industriearbeiter gibt. Es sollte nicht sein einziger »Ausflug« in die materielle Produktion bleiben. Im darauffolgenden Jahr die Einberufung zum Wehrdienst in den US-Streitkräften, sein Dienstort: Bayern. Sehr schnell wird ruchbar, daß er – obwohl er als Mitglied der KP der USA nach dem Gesetz dazu verpflichtet gewesen wäre – sich nicht als »Agent einer ausländischen Macht« hat registrieren lassen. Nun drohen Militärgericht und fünf Jahre Haft. Grossman verläßt die Truppe, im August 1952 durchschwimmt er bei Linz die Donau und erreicht – als Deserteur aus den US-Streitkräften – den sowjetisch besetzten Teil Österreichs. Es folgen Wochen der Verhöre und Befragungen durch die sowjetischen Sicherheitsorgane, schließlich wird er den DDR-Behörden übergeben, die bei Bautzen ein halboffenes Wohnlager für westliche Deserteure betreiben. Um seine Familie zu schützen, ändert er seinen Namen und nennt sich nun Victor Grossman. In Bautzen wird er, nachdem er einige Zeit als Transportarbeiter und Dreher im dortigen VEB Waggonbau gearbeitet hat, Kulturleiter eines Klubs für die Deserteure. 1954 beginnt er ein zweites Studium, diesmal Journalistik an der Karl-Universität Leipzig, 1958 dann das zweite Diplom. Es folgen Tätigkeiten als Lektor beim DDR-Auslandsverlag Seven Seas Publishers und als Redakteur beim englischsprachigen German Democratic Report sowie in der Nordamerika-Redaktion von Radio Berlin International. Von 1965 bis 1968 leitet er das Paul-Robeson-Archiv an der Akademie der Künste der DDR. Ab 1968 ist er freischaffender Journalist und arbeitet außerdem als Dolmetscher, Übersetzer und Englischlehrer. Bereits 1965 hatte er im Kinderbuchverlag sein erstes Buch veröffentlicht: »Nilpferd und Storch«. Weitere Buchpublikationen, nicht nur für Kinder und Jugendliche, folgen.

1985 dann sein erstes Erinnerungsbuch: »Flucht über die Grenze«, erschienen im FDJ-Verlag Neues Leben. (Noch im Rückblick erstaunlich, daß ein solcher Titel in der DDR verwendet werden durfte!) Knapp 20 Jahre später wird dieses Buch zur Grundlage von »Crossing the River«, das – unter weltpolitisch völlig veränderten Bedingungen – 2003 bei University of Massachusetts Press, Amherst, Boston, gründlich überarbeitet und erweitert, in englischer Sprache erscheint. Noch einmal zehn Jahre später, 2014, dann im Berliner Verlag Wiljo Heinen, erneut umfassend überarbeitet und erweitert, die hier vorzustellende deutsche Ausgabe, inzwischen auf fast 700 Seiten angewachsen. Das Buch bleibt auch in diesem Umfang durchweg lesenswert, auch wenn über die eine oder andere Geschichte scheinbar die Zeit hinweggegangen ist. Vor fünfundzwanzig oder mehr Jahren wäre zum Beispiel der Bericht über die Umstände des Todes von Dean Reed eine Sensation gewesen. Heute sind alle einschlägigen Fakten bekannt. Doch der Leser spürt, daß die damaligen Geschehnisse um seinen Landsmann und – in gewisser Weise – Schicksalsgefährten Grossman noch heute beschäftigen und bewegen. Wie auch bei der Darstellung der heutigen Ereignisse und Entwicklungen deutlich wird, daß Grossman nicht nur Zeitzeuge, sondern - trotz seines hohen Alters – noch immer Akteur in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen unserer Zeit ist.

Letzte Änderung: 14. Juli 2016