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Ausgewählte Artikel - 2015
JahrBuch für Forschungen ...* - Mai 2015

Die Unbeugsamen

Rezension zu: Olga Benario und Luiz Carlos Prestes, Die Unbeugsamen. Briefwechsel aus Gefängnis und KZ, herausgegeben von Robert Cohen, Wallstein Verlag, Göttingen 2013

Anfang1935 kehrte Luiz Carlos Prestes nach einem mehrjährigen Aufenthalt in der Sowjetunion unter strengster Geheimhaltung nach Brasilien zurück. Gestützt auf seine große Popularität als legendärer »Ritter der Hoffnung« wollte er als Führer der Aliança Nacional Libertadora, der Nationalen Befreiungsallianz, der größten Volksfrontorganisation in der Geschichte Brasiliens, den seit November 1930 amtierenden Staatspräsidenten Getúlio Vargas stürzen und »im Namen des brasilianischen Volkes« selbst die politische Macht im Land übernehmen. Das Bündnis von Kommunistischer Partei und Nationaler Befreiungsallianz sollte die Grundlage für eine revolutionäre Umgestaltung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im größten Land Lateinamerikas sein. Doch im November 1935 scheiterte das Vorhaben - wegen mangelnder politisch-organisatorischer Vorbereitung, wegen Verrat in den eigenen Reihen, vor allem aber wegen des Fortbestehens putschistischer Tendenzen in der Kommunistischen Partei und bei Prestes selbst. Denn obwohl er Mitglied der Kommunistischen Partei Brasiliens und seit dem VII. Weltkongreß im Juli und August 1935 formell sogar Mitglied des engeren Führungszirkel der Kommunistischen Internationale in Moskau war, wurde Prestes' politisches Denken und Handeln weiterhin vom »Tenentismo« bestimmt, der kleinbürgerlichen Ideologie junger unzufriedener und rebellierender Militärs der zwanziger Jahre, an deren Spitze er sich weiterhin sah. Doch die übergroße Mehrheit der »Tenentistas« hatte sich längst auf die Seite von Vargas geschlagen.

Zur Begleiterin von Prestes bei seiner Rückkehr nach Brasilien hatte die Komintern die gerade erst 26 Jahre alte deutsche Kommunistin Olga Benario bestimmt, die bei der Befreiung ihres damaligen Lebensgefährten Otto Braun aus dem Gerichtsgefängnis in Berlin-Moabit im April 1928 außergewöhnlichen Mut bewiesen hatte und die inzwischen über eine umfassende militärische und paramilitärische Ausbildung verfügte. Sie trug die persönliche Verantwortung für die Sicherheit von Prestes.

Während der mehrmonatigen Reise von Osteuropa nach Südamerika, bei der Prestes und Benario als wohlhabendes portugiesisches Ehepaar auftraten, entwickelte sich sehr schnell eine tiefe Liebesbeziehung zwischen der Deutschen und dem Brasilianer, deren gemeinsame Sprache zunächst nur das Französische war.

Nach dem Scheitern der Revolutionspläne im November 1935 wurde ganz Brasilien von einer Welle des politischen Terrors überrollt. Prestes und Benario gelang es zunächst, sich der Verhaftung zu entziehen. Doch im März 1936 wurden sie in ihrem geheimen Quartier in Rio de Janeiro aufgespürt und verhaftet. Olga Benario, die inzwischen schwanger war, stellte sich schützend vor Prestes und verhinderte so, daß die in großer Zahl einstürmenden Polizisten Prestes »auf der Flucht« erschossen.

Prestes wurde im September 1937 zu 16 Jahren Haft verurteilt. Olga Benario war bereits im September 1936 nach Deutschland abgeschoben und der Gestapo übergeben worden. Im Frauengefängnis in der Berliner Barnimstraße brachte sie am 27. November 1936 ihre Tochter Anita Leocádia Prestes zur Welt. Im Januar 1938 wurde das Kind der Großmutter übergeben, die es nach Mexiko in Sicherheit bringen konnte. Für Olga Benario folgte ein Leidensweg durch mehrere Konzentrationslager, bis sie am 23 April 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg als Jüdin und Kommunistin ermordet wurde. Prestes kam im Mai 1945 im Ergebnis einer Amnestie frei.

Bedauerlicherweise hat Robert Cohen diesen Hintergrund in seiner Einleitung zu dem hier zu besprechenden Buch nur sehr oberflächlich und in wesentlichen Einzelheiten sogar falsch dargestellt. Das ist vor allem deshalb ärgerlich, weil er mit seinem dokumentarischen Roman »Exil der frechen Frauen« (Rotbuch-Verlag, Berlin 2009) bereits bewiesen hatte, daß er sich mit den brasilianischen Ereignissen des Jahres 1935 gründlich befaßt hat.

Der nun erstmals in deutscher Sprache vorliegende Briefwechsel zwischen Olga Benario und Luiz Carlos Prestes aus den Jahren der Haft umfaßt insgesamt 101 Briefe. 47 Briefe, so kann man es einer »Editorischen Notiz« des Herausgebers entnehmen (S. 35 ff.), stammen von Olga Benario, die übrigen 54 Briefe von Prestes. 18 Briefe von Olga Benario wurden während der Haft in der Barnimstraße geschrieben, 18 im KZ Lichtenburg und elf im KZ Ravensbrück. Die Briefe von Prestes stammen aus zwei Gefängnissen in Rio de Janeiro. Dank der Unterstützung durch Anita Leocádia Prestes, heute selbst eine profilierte Historikerin, die in ihrem privaten Archiv die deutschsprachigen Originalbriefe ihrer Mutter aufbewahrt, war es möglich, auf Rückübersetzungen aus dem Portugiesischen zu verzichten.

Der Briefwechsel zwischen Prestes und Olga Benario ist ein ergreifendes Zeugnis einer großen und in gewisser Weise einzigartigen Liebe. Doch für den Historiker sind die Briefe nur von geringem Wert. Die beiderseits des Atlantiks rigoros ausgeübte Zensur machte es Prestes und Olga Benario unmöglich, sich über andere als Alltagsfragen auszutauschen. Politische Angelegenheiten, an denen sie auch unter den Bedingungen der Haft weiterhin großes Interesse hatten, durften keine Erwähnung finden. Kurze Bemerkungen, wie die von Prestes in seinem Brief vom 1. Mai 1938, daß er hören könne, wie außerhalb des Gefängnisses »das große Fest der Arbeit« gefeiert würde (S. 157.), stellten die absolute Ausnahme dar. Doch zeigen die Briefe auch, daß sowohl Prestes als auch Olga Benario selbst unter den äußerst widrigen Umständen der Haft bemüht waren, ihr eigenes Wissen zu erweitern. So berichteten sie einander regelmäßig über die Bücher, die sie lesen konnten. Großen Raum nahm naturgemäß das Schicksal der gemeinsamen Tochter ein, über deren Entwicklung im ersten Lebensjahr Olga Benario detailliert berichtete. Nach dem ihr das Kind weggenommen worden war, konnte es nur noch darum gehen, die spärlichen Informationen zu kommentieren, die von Prestes' Mutter per Brief kamen.

Für die wissenschaftliche Forschung wesentlich ergiebiger ist die in drei Bänden herausgegebene Gefängniskorrespondenz von Luiz Carlos Prestes, die zwischen 2000 und 2002 in Rio de Janeiro unter dem Titel »Anos tormentosos. Luiz Carlos Prestes – correspondência da prisão [1936-1945]« veröffentlicht wurden. Herausgeberinnen waren Anita Leocádio Prestes und Lygia Prestes, eine Schwester von Luiz Carlos Prestes.

* JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung

Letzte Änderung: 19. Dezember 2016