Disput - Juli 2014

Sohn seiner Klasse

Vor siebzig Jahren wurde der langjährige Vorsitzende der KPD, Ernst Thälmann, im Konzentrationslager Buchenwald ermordet

Dutzende Bücher und Hunderte Artikel sind inzwischen über Ernst Thälmann geschrieben worden. Doch eine Biografie, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, fehlt noch immer. Entweder wird Thälmann ausschließlich als überragender Arbeiterführer und Revolutionär gefeiert, oder er wird als Stalinist und Todfeind der (bürgerlichen) Demokratie verdammt. Vor allem Autoren aus Deutschland fällt es schwer, die notwendige Distanz aufzubringen.

Die große Herausforderung besteht darin, Thälmann aus seiner Zeit heraus zu verstehen und zu erklären. Denn der Maßstab kann und darf nicht sein, was heutige Generationen wissen, sondern nur das, was Thälmann und seine Zeitgenossen wussten bzw. wissen konnten.

Geboren am 16. April 1886 als Sohn eines kleinen Fuhrunternehmers und Gemüsehändlers, hatte Thälmann nie die Chance, einen Beruf zu erlernen. Er »jobbte« als Kutscher im Geschäft seines Vaters, fuhr als Heizer zur See, war in den USA einige Monate Feldarbeiter und wurde schließlich Transportarbeiter im Hamburger Hafen - eine Tätigkeit, die sein Bild bis heute bestimmt. Den Ersten Weltkrieg verbrachte er im Schützengraben. Wie Millionen Menschen seiner Generation lernte er den Krieg und die Kriegstreiber aus tiefster Überzeugung zu hassen.

An der Entstehung der Kommunistischen Partei Deutschlands war Thälmann nicht beteiligt. Er war 1903 Mitglied der SPD geworden, doch Ende 1918, nach der Rückkehr aus dem Krieg, trat er der USPD bei, nicht der in Gründung befindlichen KPD. Erst im Dezember 1920, mit dem Zusammenschluss des linken Flügels der USPD mit der KPD, wurde er Mitglied jener Partei, deren Geschicke er nur wenige Jahre später entscheidend mitbestimmen sollte.

Thälmann war vor allem in seiner Heimatstadt Hamburg bekannt. Einen ersten Höhepunkt seiner deutschlandweiten Popularität erreichte er im Frühjahr 1925, als er für das Amt des Reichspräsidenten kandidierte und mehr als zehn Prozent der Stimmen erhielt.

Zu diesem Zeitpunkt gehörte Thälmann längst zum »Spitzenpersonal« der KPD. Im Februar 1924 war er erstmals zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt worden. Allerdings stand er politisch im Schatten von Ruth Fischer und Arkadi Maslow, deren ultralinke Parolen er jedoch keineswegs ablehnte. Aber während Fischer und Maslow zunehmend auf Distanz zur Kommunistischen Internationale (KI) gingen, bekannte sich Thälmann bedingungslos zur Führungsrolle der sowjetischen Kommunisten in der internationalen kommunistischen Bewegung. Im April 1924 schrieb Hermann Remmele an den damaligen Vorsitzenden der KI, Grigori Sinowjew: »Thälmann ist zweifellos der treueste und ergebenste Schildhalter der Beschlüsse und Anforderungen der Exekutive in der deutschen Partei. Er ist der absolute, energischste und rücksichtsloseste Verfechter strengster Disziplin und Unterordnung unter den Willen der Internationale und der entschiedenste Anhänger des internationalen Zentralismus. Jedenfalls kann die Internationale keinen besseren Sachwalter in der deutschen Partei finden [... als] Thälmann.«

Remmele berichtete aber auch: »[Er ist …] jedoch keine große selbständige schöpferische Kraft, was in dem deutschen Milieu, bei den täglich auf die Partei eindringenden Problemen und Fragen unbedingt zur Führereigenschaft gehört. Es ist wohl keine Übertreibung, daß die deutsche Politik das Höchstmaß an politischen Erfahrungen und Kenntnissen erfordert . [...] Und das ist das, was Thälmann fehlt.«

Trotzdem setzte »Moskau« auf Thälmann und machte ihn im Spätsommer 1925 zum Vorsitzenden der KPD. Er trug nun die Verantwortung für die weitere »Bolschewisierung« der KPD, die letztlich eine Auslieferung der Partei an die Herrschaftsinteressen Stalins war. Und er trug die Verantwortung dafür, dass die KPD bis 1933 ihren Kampf vor allem gegen die angeblich »sozialfaschistische« SPD und nicht gegen die Nazis, die tatsächlichen Faschisten, richtete.

Thälmann gehörte zu den ersten prominenten Opfern der Hitler-Diktatur: Er wurde am 3. März 1933 in Berlin verhaftet. In den mehr als elf Jahren der Haft blieb er ungebrochen und wurde damit für tausende antifaschistische Widerstandskämpfer zu einem Quell der eigenen Kraft. Thälmann ahnte, dass ihn die faschistischen Schergen niemals freigeben würden und dass er das Ende der faschistischen Diktatur in Deutschland nicht überleben würde. Trotzdem setzte er auf den Sieg der Roten Armee.

Ernst Thälmann wurde am 18. August 1944 auf persönlichen Befehl Hitlers ermordet. Er wird als ein kämpfender, aber auch irrender Mensch in Erinnerung bleiben.

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 19. April 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2014/sohn-seiner-klasse/