Ausgewählte Artikel - 2014
Remilitarisierung
Mit den Pariser Verträgen vom 23. Oktober 1954 wurde die Bundesrepublik Mitglied der NATO und erhielt eine begrenzte Souveränität
Ende August 1954 hatte die französische Nationalversammlung die Ratifizierung des Vertrages über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) abgelehnt. Ein erster Versuch, die auf beiden Seiten des Atlantiks dringend gewünschte Remilitarisierung der Bundesrepublik im Rahmen eines westlichen Militärbündnisses zu regeln, war damit gescheitert. Doch weder in Washington noch in Bonn war man bereit, diese Tatsache zu akzeptieren. Innerhalb weniger Wochen wurde eine sogenannte Neunmächtekonferenz nach London einberufen, die vom 28. September bis zum 3. Oktober 1954 tagte. Und bereits am 20. Oktober 1954 traf man sich in Paris, um nach nur dreitägigen Verhandlungen ein ganzes Paket von internationalen Verträgen zu unterzeichnen. Sie gaben dem seit Jahren tobenden Kalten Krieg in dramatischer Weise neue Nahrung.
Zwar verzichtete die Bundesrepublik in Paris offiziell auf die Herstellung atomarer, biologischer und chemischer Waffen, doch mit dem Beitritt zur NATO und zur Westeuropäischen Union, der am 5. Mai 1955 vollzogen wurde, wurde nur zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges der entscheidende Schritt zu einer umfassenden und dauerhaften Remilitarisierung getan. Damit verbunden war de facto der Verzicht auf die in zahllosen Sonntagsreden immer wieder beschworene »deutsche Einheit«, denn die Sowjetunion hatte wiederholt und unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie der Wiedervereinigung eines remilitarisierten Deutschlands unter keinen Umständen zustimmen würde. (Demonstrativ war deshalb in der DDR auf die Aufstellung einer regulären Armee verzichtet worden, statt dessen wurde seit Juli 1952 die Kasernierte Volkspolizei aufgebaut.)
Im »Gegenzug« erhielt die Bundesrepublik »die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten«, wie es in dem Vertragstext hieß. Doch diese Souveränität war in starkem Maße eingeschränkt, und sie ist es trotz nachfolgender Verträge, nicht zuletzt dem Vier-plus-Zwei-Vertrag vom 12. September 1990, mit dem die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen des »Beitritts« der DDR zur BRD geregelt wurden, bis heute. Denn immer noch gelten Vereinbarungen, die den in der Bunderepublik stationierten US-amerikanischen Truppen besondere Rechte einräumen. So steuern US-amerikanische Militärangehörige von deutschem Boden aus bewaffnete Drohnen, die in Afghanistan und anderen Teilen der Welt Tod und Zerstörung bringen. (Hier und in anderen vergleichbaren Fragen – Stichwort NSA-Spionageaffäre – besteht dringender Handlungsbedarf, doch fehlt es der dafür zuständigen Bundesregierung offensichtlich an dem notwendigen politischen Willen.)
Gegen die geplante und nun auch international vereinbarte umfassende Remilitarisierung der Bundesrepublik formierte sich bereits Anfang der fünfziger Jahre ein breitgefächerter bürgerschaftlicher Widerstand. Anfang 1951 hatte Pastor Martin Niemöller die Idee einer Volksbefragung über die Wiederbewaffnung ins Gespräch gebracht. Obwohl eine solche Volksbefragung als »kommunistische Propaganda« umgehend durch den Bundesinnenminister verboten wurde, gelang es im Rahmen der »Ohne mich«-Bewegung, mehr als sechs Millionen Unterschriften gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zu sammeln. Am 29. Januar 1955 schließlich, wenige Wochen vor der für den 27. Februar 1955 geplanten Ratifizierung der Pariser Verträge im Bundestag, trafen sich mehr als tausend Persönlichkeiten in der Frankfurter Paulskirche, um gegen die Außenpolitik der Regierung Adenauer zu protestieren. Sie verabschiedeten ein »Deutsches Manifest«, das das »Recht des deutschen Volkes auf seine Wiedervereinigung« in den Mittelpunkt stellte. Wörtlich hieß es: »Die Aufstellung deutscher Streitkräfte in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone muß die Chancen der Wiedervereinigung für unabsehbare Zeit auslöschen und die Spannung zwischen Ost und West verstärken.«
Doch die Mahnung blieb ungehört. Der Bundestag ratifizierte die Pariser Verträge, und nur wenige Tage nach dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik entstand das östliche Militärbündnis, der Warschauer Vertrag. Die weitere Geschichte ist bekannt.
Letzte Änderung: 1. Februar 2020