Disput - Dezember 2012

Tauroggen

Vor 200 Jahren schloß der preußische General Yorck ohne Zustimmung seines Königs einen Waffenstillstand mit der Führung des russischen Heeres und gab so der antinapoleonischen Befreiungsbewegung einen entscheidenden Impuls

Im Sommer 1812 stand der damals 42jährige Napoleon Bonaparte, der sich seit 1807 mit dem Titel eines »Kaiser der Franzosen« schmückte, auf dem Höhepunkt seiner Macht: Direkt oder über Mittelsleute beherrschte er große Teile von West- und Mitteleuropa. Großbritannien war durch die sogenannte Kontinentalsperre politisch und vor allem wirtschaftlich weitgehend isoliert. In Frankreich selbst war seine Herrschaft ohnehin seit vielen Jahren unangefochten.

Seit Ende 1810 allerdings hatten sich die Beziehungen zu Rußland deutlich verschlechtert. Insbesondere die Tatsache, daß das Zarenreich aus ökonomischen Gründen nicht länger bereit war, die Blockade Großbritanniens mitzutragen, führte dazu, daß Napoleon im Verlaufe des Jahres 1811 damit begann, einen Feldzug gegen Rußland vorzubereiten. Zur »Grande Armée«, mit der er schließlich im Juni 1812 die Grenze zu Rußland überschritt, gehörten nicht nur französische Truppen. Auch die unter französischer Kontrolle stehenden deutschen Rheinbundstaaten sowie Österreich und vor allem Preußen wurden gezwungen, sich mit eigenen Truppen an Napoleons politischem und militärischem Abenteuer zu beteiligen: Die 675.000 Mann, die am Beginn des Feldzugs unter dem Befehl Napoleons standen, waren das größte Heer, das bis dahin jemals in Europa aufgestellt worden war.

Doch es war gerade diese Größe, die den Untergang des Napoleonischen Heeres besiegelte: Unter den Bedingungen des frühen 19. Jahrhunderts war es nicht möglich, die Versorgung einer so großen Streitmacht und ihres Trosses auf Dauer sicherzustellen. Innerhalb kürzester Zeit überstiegen die Verluste durch Hunger und Entkräftung die Verluste durch militärische Handlungen. Als die »Grande Armée« am 17. August 1812 Smolensk erreichte, rund 380 Kilometer von Moskau entfernt, zählte sie nur noch 160.000 Mann. Zwar gelang es Napoleon in der Schlacht von Borodino am 7. September 1812 unter großen Verlusten an Menschen und Material, das russische Heer zu besiegen. Und am 14. September 1812 konnte er kampflos in das fast vollständig geräumte Moskau einmarschieren. Doch der russische Zar verweigerte jede Verhandlung und jedes Zugeständnis. So sah sich Napoleon, abgeschnitten von allem Nachschub, gezwungen, am 18. Oktober 1812 mit den Resten seiner einst »Großen Armee« den Rückmarsch anzutreten. Bei dem Versuch, die Beresina, einen Fluß im heutigen Weißrußland, zu überqueren, wurde Napoleons Heer Ende November 1812 von russischen Truppen endgültig zerschlagen, die dabei den größten Sieg in ihrem »Vaterländischen Krieg« feiern konnten.

Angesichts des katastrophalen Verlaufes von Napoleons »Russischem Feldzug« hatte Generalleutnant Johann David Ludwig Graf Yorck von Wartenburg, der Kommandeur des in die »Grande Armée« eingegliederten preußischen Hilfskorps, bereits in den Wochen zuvor bei König Friedrich Wilhelm III. mehrmals um die Genehmigung nachgesucht, seine Truppen dem französischen Befehl entziehen und mit der Führung des russischen Heeres einen Waffenstillstand vereinbaren zu dürfen. Doch der König ließ die wiederholten Anfragen seines Generals unbeantwortet, so daß sich Yorck Ende Dezember 1812 entschloß, die Waffenstillstandsverhandlungen in eigener Verantwortung zu führen. Damit beging er im juristischen Sinne Hochverrat und riskierte die Todesstrafe, doch er war, wie er in einem Brief an Friedrich Wilhelm III. schrieb, von der Richtigkeit und der Notwendigkeit seiner Entscheidung überzeugt: »Jetzt oder nie ist der Moment, Freiheit, Unabhängigkeit und Größe wiederzuerlangen. Ich schwöre Eurer Königlichen Majestät, daß ich auf dem Sandhaufen ebenso ruhig wie auf dem Schlachtfelde, auf dem ich grau geworden bin, die Kugel erwarten werde.«

In der Nähe von Tauroggen, einer kleinen Stadt im Südwesten des heutigen Litauen, unterzeichneten Yorck und der russische General Hans Karl von Diebitsch schließlich am 30. Dezember 1812 die »Konvention von Tauroggen«. Mit diesem Abkommen wurden die preußischen Truppen im Konflikt zwischen Frankreich und Rußland für »neutral« erklärt. Zwar wurde in einer Klausel die Möglichkeit eingeräumt, daß der preußische König seine »Allerhöchste Bestimmung versagen«, also das Abkommen ablehnen könnte. Doch auch in diesem Fall hätte die preußische Neutralität für zwei kriegsentscheidende Monate gegolten. (Einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen dieses Abkommen hatte der spätere preußische General Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz - um nicht unter Napoleon gegen Rußland in den Krieg ziehen zu müssen, hatte er Preußen im Sommer 1812 verlassen und war in russische Dienste getreten.)

Mit seiner Unterschrift unter die »Konvention« hatte Yorck seine Verantwortung für die von ihm geführten Truppen über den blinden Gehorsam gegenüber dem König gestellt. Er hatte dabei eine Entscheidung von größter Tragweite getroffen, weil er erkannt und begriffen hatte, daß es Augenblicke in der Geschichte gibt, wo das Festhalten an Befehlen zwangsläufig in den Untergang führt, wo man selbst nach einer Alternative suchen muß, weil »höheren Ortes« die Einsicht in die Notwendigkeiten fehlt.

Nach anfänglicher Empörung über die Eigenmächtigkeit Yorcks sanktionierte Friedrich Wilhelm III. schließlich dessen Entscheidung. Am 17. März 1813 wandte sich der König selbst mit einem Aufruf - »An Mein Volk« - an seine Untertanen und forderte sie auf, im gemeinsamen Kampf gegen Napoleon »Preußen und Deutsche zu seyn.« In den nachfolgenden Befreiungskriegen, deren unbestrittener Höhepunkt die Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 war, erlitt Napoleon eine Reihe weiterer schwerer Niederlagen, so daß er schließlich im April 1814 abdanken mußte.

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 23. April 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2012/tauroggen/