Ausgewählte Artikel - 2012
Ernst Thälmann. Soldat des Proletariats
Rezension zu Armin Fuhrer, Ernst Thälmann. Soldat des Proletariats, Olzog Verlag GmbH, München 2011, 352 Seiten
Um es vorweg zu sagen: Der Autor Arnim Fuhrer hat sich gar nicht erst der Mühe unterzogen, eigene Forschungen zu unternehmen. Zwar hat er nach eigenem Bekunden im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde gearbeitet, doch dort war er offensichtlich nur auf der Suche nach Zitaten, die ihm zur Begründung bzw. Illustration seiner stets massiven Attacken gegen Thälmann dienen sollten. Zu diesem Zweck hat er sich ausschließlich mit den Erinnerungen und den Nachlässen von etwa drei Dutzend Personen - Zeitgenossen Thälmanns - befaßt. Akten der KPD oder der Komintern hat er nicht angefaßt.
Bereits ein kurzer Blick auf das Verzeichnis der verwendeten Literatur macht deutlich, daß Fuhrer so ziemlich alle bedeutenden Forschungsarbeiten der letzten 40 Jahre schlicht entgangen sind oder daß er sie - was eher anzunehmen ist - bewußt übergangen hat. Mehr noch: In seinem Literaturverzeichnis fehlen nahezu alle relevanten Veröffentlichungen linker Autoren der letzten zwanzig Jahre. Die verdienstvolle Reihe des Berliner Dietz-Verlags "Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus" hat er vollkommen ignoriert, zumindest ist seinem Literaturverzeichnis nicht zu entnehmen, daß er auch nur einen Blick in die inzwischen rund ein Dutzend Bände umfassende Edition geworfen hat. Selbst die einschlägigen Arbeiten von Bert Hoppe (In Stalins Gefolgschaft. Moskau und die KPD 1928-1933, München 2007) oder Klaus-Michael Mallmann (Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996) hat er nicht zur Kenntnis genommen. Dafür tauchen in Fuhrers Literaturverzeichnis wiederholt thematisch sehr enge Artikel aus dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" auf, gelegentlich auch mehrmals - unter dem Titel und unter dem Namen des Verfassers. Selbst kurze Beiträge aus Tageszeitungen mußten herhalten, um das dürftige Literaturverzeichnis zumindest optisch etwas ansehnlicher zu machen.
Kurz gesagt: Fuhrer hat sein - begrenztes - Wissen über Thälmann und Thälmanns Zeit vor allem von Hermann Weber und dessen "Wandlung des deutschen Kommunismus" aus dem Jahre 1968 bezogen. Mithin agiert er auf dem Erkenntnisstand der späten sechziger Jahre.
Man muß Fuhrer allerdings zugestehen, daß er - wie er selbst in seiner Einleitung deutlich gemacht hat - zu keinem Zeitpunkt die Absicht hatte, eine wissenschaftliche Thälmann-Biographie zu schreiben: Er wollte eine antikommunistische Kampfschrift vorlegen, in der Thälmann als geistlose und tumbe Gestalt erscheint, vor allem aber als eine Marionette Stalins, die zu keinem Zeitpunkt zu eigenem Denken und Handeln willig oder fähig war. Fuhrer hat - wenn auch unter Bezug auf Willi Bredel und dessen Thälmann-Buch aus dem Jahre 1948 - eine Formulierung gefunden, die seine eigene Publikation treffend beschreibt: Eine "quellenarme, aber meinungsstarke Biografie" (S. 114).
Angesichts dieser Ausgangslage fallen simple Tatsachenfehler, die sich beinahe endlos in Fuhrers Buch finden, schon nicht mehr ins Gewicht: Nicht der Spartakusbund versandte im Frühjahr 1915 die sogenannte Spartakusbriefe, sondern der zunächst lose Zusammenschluß linker Sozialisten erhielt erst in der Folge diesen Namen, eben weil er als Herausgeber der Spartakusbriefe bekannt wurde (S. 48 f.). Heinrich Brandler war im Oktober 1923 nicht Leiter der sächsischen Reichskanzlei, sondern Chef der sächsischen Staatskanzlei (S. 106). In der zweiten Runde der Reichspräsidentenwahl 1925 trat nicht Karl Jarres für die sogenannte Weimarer Koalition an, sondern Wilhelm Marx. Jarres kandidierte überhaupt nicht. (S. 140 f.). Philipp Dengel konnte im Jahre 1924 nicht in das ZK der KPD gewählt werden, weil es dieses Gremium erst ab 1925 gab. Vorher nannte sich das Führungsorgan der Partei schlicht Zentrale (S. 175). August Thalheimer war im Sommer 1932 keine "kritische Stimme in der Partei" mehr, weil er bereits im Januar 1929 aus der KPdSU (nicht der KPD) ausgeschlossen worden war, nach dem er mit Heinrich Brandler Ende Dezember 1928 die KPD (Opposition) gegründet hatte (S. 254). Die Reihe dieser Beispiele ließe sich fortsetzen.
Völlig zurecht kritisiert Fuhrer, daß der Thälmann-Forschung in der DDR durch das von der Führung der SED vorgegebene Thälmann-Bild enge Fesseln angelegt waren und daß nicht wenige Aspekte von Thälmanns Leben und Wirken daher tendenziös oder sogar falsch dargestellt wurden. Doch er beschränkt sich auf pauschale Vorwürfe, ohne anhand von konkreten Beispielen, die sich bei angemessenem Quellen- und Literaturstudium ohne Frage hätten finden lassen, "Dichtung" und "Wahrheit" konkret gegenüberzustellen. An einer einzigen Stelle unternimmt er einen solchen Versuch, doch er scheitert an seiner eigenen Ignoranz: Die sogenannte Wittorf-Affäre fand entgegen der Behauptung Fuhrers (S. 194) in der "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" von 1966 eben doch Erwähnung, und zwar auf den Seiten 181 f. des IV. Bandes.
Besondere Verachtung läßt Fuhrer für die 1979 in der DDR erschienene zweibändige Thälmann-Biographie erkennen, wobei er sich auch in diesem Fall eine konkrete, an Tatsachen festgemachte Auseinandersetzung erspart: Er beschränkt sich auf eine pauschale Verunglimpfung des Buches und seiner Autoren. Beinahe kurios ist in diesem Zusammenhang, daß er aus keinem anderen Buch so häufig Zitate unterschiedlicher Provenienz übernimmt, um seine zum Teil kruden Thesen zu "belegen".
So kann man Fuhrers offensichtlich ernstgemeinte Behauptung, daß Hitlers Aufstieg in den zwanziger Jahren vor allem der Tatsache geschuldet war, daß die Parteien der Weimarer Republik keine charismatischen Führerpersönlichkeiten hatten (S. 151 f.), wohl nur als vollkommen absurd bezeichnen.
Doch auch in dieser Hinsicht findet Fuhrer noch Steigerungsmöglichkeiten: Völlig losgelöst von allen historischen Tatsachen unterstellt er Thälmann, mit Hitler gemeinsame Interessen und Ziele hinsichtlich der Zerschlagung der "Demokratie" in der Weimarer Republik gehabt zu haben. Mehr noch, er erklärt Thälmann zum "schuldbeladenen Wegbereiter Hitlers" (S. 331).
Es ist unbestritten, daß Thälmann und die KPD bei der Beurteilung der Gefahren, die vom deutschen Faschismus ausgingen, schweren und folgenreichen Irrtümern unterlagen. Doch bei der Bewertung dieser Irrtümer begeht Fuhrer, wie an anderen Stellen auch, vorsätzlich den Fehler, bei den (linken) Protagonisten seines Buches geschichtliche Erfahrungen vorauszusetzen, die diese zum geschilderten Zeitpunkt gar nicht haben konnten.
Die Absicht Fuhrers dabei ist klar und wenig originell: Er belegt bereits das Nachdenken über Alternativen zum bürgerlichen Staat - in diesem Fall in Gestalt der Weimarer Republik - mit einem grundsätzlichen Tabu. Wer, wie Thälmann, die Grenzen des bürgerlichen Staates überwinden und eine von Räten getragene Republik errichten wollte, muß als "Feind der Demokratie" gebrandmarkt werden. Fuhrer produziert hier politische Propaganda auf niedrigstem Niveau, in dem er eine vorgebliche Traditionslinie von Hitler und Thälmann bis hin zu den "zwei Diktaturen auf deutschem Boden" konstruiert.
Eine Würdigung Thälmanns für dessen Kampf gegen die "NS-Diktatur", wie er die Herrschaft des deutschen Faschismus wiederholt kaschierend nennt, lehnt Fuhrer folglich aus "bürgerlich-demokratischer Sicht" ab, denn er kann einen "Kampf, der nur eine Diktatur durch eine andere ersetzen will", nicht gutheißen (S. 334).
Und noch ein weiteres Mal - im allerletzten Absatz des Buches - muß Fuhrer die "bürgerlich-demokratische Sicht" strapazieren, wobei er passend zum Stil seines Buches ausgerechnet Hubertus Knabe als Kronzeugen aufbietet: Er sieht es als "befremdlich" an, daß Ernst Thälmann "vor dem Hintergund seiner Politik und seiner Ziele [...] auf dem Gebiet der früheren DDR bis heute mit Hunderten nach ihm benannter Straßen und Plätze geehrt wird" (S. 336).
* JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung
Letzte Änderung: 10. Juni 2015