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Ausgewählte Artikel - 2011
Neues Deutschland - 25. Februar 2011

Plagiat in Versen

Randbemerkung

In einer der schönsten und liebevollsten Erzählungen in der Literaturgeschichte des späten 20. Jahrhunderts - "Brennende Geduld" – schildert der aus Chile stammende Antonio Skármeta die – fiktive – Geschichte der Freundschaft zwischen dem großen chilenischen Dichter und Kommunisten Pablo Neruda und dem kaum zwanzigjährigen Mario Jiménez, dem Briefträger von Isla Negra, der so gern selbst, wie wohl fast alle Chilenen seiner Generation, ein Dichter sein wollte.

Mario umwirbt die von ihm angebetete Beatriz mit einem Liebesgedicht, das einst Pablo Neruda für seine Frau Matilde geschrieben hatte. Das Unvermeidliche geschieht, Doña Rosa, die Mutter von Beatriz, die um die Unschuld ihrer Tochter fürchtet, taucht bei Pablo Neruda auf und fordert dessen Eingreifen gegen Mario, den sie als "Verführer von Minderjährigen" und "Plagiator" beschimpft. Kaum ist Doña Rosa gegangen – Pablo Neruda fühlt sich wie ein Boxer, der in der ersten Runde K.O. gegangen ist – entspinnt sich folgender kurzer Dialog zwischen dem Briefträger, der das vorangegangene Gespräch im Nachbarzimmer versteckt mit angehört hatte, und dem Dichter:

"Sie haben mich in diese Lage gebracht, und Sie müssen mich da wieder herausholen. Sie haben mir Ihre Bücher geschenkt, Sie haben mir beigebracht, die Zunge zu mehr zu verwenden als zum Briefmarkenaufkleben. Sie sind schuld, daß ich mich verliebt habe."

"Nein, nein, Señor. Eine Sache ist, daß ich dir ein paar von meinen Büchern geschenkt habe, aber eine ganz andere, daß ich dir nicht erlaubt habe, sie zu plagiieren. Übrigens hast du ihr das Gedicht geschenkt, das ich für Matilde geschrieben habe."

"Dichtung gehört nicht dem, der sie schreibt, sondern dem, der sie benutzt!"

"Ich freue mich über diesen demokratischen Satz, aber wir wollen die Demokratie nicht so weit treiben, daß wir in der Familie abstimmen, wer der Vater ist."

Letzte Änderung: 2. Oktober 2011