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Ausgewählte Artikel - 2011
[marx21]* - Mai 2011

Lenin. Vorgänger Stalins

Annotation zu Wolfgang Ruge, Lenin. Vorgänger Stalins. Eine politische Biografie. Bearbeitet und mit einem Vorwort von Eugen Ruge, herausgegeben von Wladislaw Hedeler, Matthes & Seitz Berlin 2010, 470 Seiten

Das hier zu besprechende Buch ist in sich widersprüchlich, ein Umstand, der wohl vor allem seiner Entstehungsgeschichte geschuldet ist: Wolfgang Ruge (1917-2006), der als Autor erscheint, hat dieses Buch nicht geschrieben, ja nicht einmal konzipiert. Eugen Ruge - sein Sohn - und Wladislaw Hedeler haben vielmehr dem Nachlaß von Wolfgang Ruge die Manuskripte einer Anfang der neunziger Jahre anonym verfassten Vorlesungsreihe entnommen, um sie als "lesbares Buch zu gestalten" (S. 16).

Das Buch ist in weiten Teilen der - gescheiterte - Versuch einer Generalabrechnung mit Lenin und dessen politischer Theorie und Praxis. Nach Ruge gab es im Jahre 1917 keine Oktoberrevolution, sondern lediglich einen "Oktoberumsturz": Die historische Legitimität eines weltgeschichtlichen Ereignisses wird damit grundsätzlich in Frage gestellt, und folglich werden pauschal alle nachfolgenden Maßnahmen zur Verteidigung der Revolution als bloße Akte der Gewalt denunziert. Dabei wird der eigentlich viel umfassendere Gewaltbegriff ganz offensichtlich auf (physischen) Terror reduziert, der in der Darstellung von Ruge vor allem von den Bolschewiki ausgeübt wurde.

Lenin selbst wurde von Ruge zum Phantasten erklärt, dessen Phantasien - das muß Ruge eingestehen - allerdings in vielerlei Hinsicht Realität wurden. (Exemplarisch für die zum Teil grotesken Argumente gegen Lenin steht die Behandlung der sogenannten April-Thesen. Ruge wörtlich: "Es war, wenn man so will, ein Phantasieprogramm, das in seinen Kernpunkten dennoch bald realisiert wurde, im Gegensatz zu vielen aus der Geschichte bekannten realistischen Programmen, deren Verwirklichung scheiterte." (S. 98))

Erstaunlich ist der von Ruge erhobene Vorwurf, Lenin habe die Partei schrittweise dem Staatsapparat untergeordnet - für gewöhnlich wird ja beklagt, daß die Kommunistischen Parteien und ihre Führer, sobald sie an die Macht gelangten, der Partei und deren Führungsgremien einen Platz außerhalb - oder richtiger: oberhalb - der staatlichen Ordnung zugewiesen haben.

Wirklich lesenswert sind nur die letzten drei Kapitel des Buches ("Lenins Testament", "Lenins Staat nach Lenin" und "Nachbemerkung zur Quellenlage"), in denen im Grunde die gesamte Argumentation der vorangegangenen Kapitel ad absurdum geführt wird. Hier nun erfolgt eine differenzierte Sicht auf Lenin, hier wird ernsthaft der Versuch unternommen, das politische Wirken Lenins - vor allem in der Auseinandersetzung mit den Kernaussagen anderer Lenin-Biographen - in das konkrete historische Umfeld einzuordnen. Und Ruge kommt zu der - eigentlich nicht überraschenden - Erkenntnis, daß Lenin zwar im zeitlichen Ablauf der Ereignisse der "Vorgänger Stalins" war, wie der Untertitel des Buches lautet, nicht aber hinsichtlich der Art und Weise der Machtausübung.

Insgesamt macht auch dieses Buch deutlich: Angesichts zahlloser ungelöster Gegenwartsaufgaben sind auch knapp 90 Jahre kein ausreichender zeitlicher Abstand, um Lenins theoretisches und vor allem praktisches Wirken losgelöst von ideologischen Prämissen zu bewerten.

* Diese Rezension wurde von der Redaktion von marx21 bestellt, dann aber nicht veröffentlicht.

Letzte Änderung: 18. Dezember 2011