Ausgewählte Artikel - 2011
Das kurze Jahrhundert
Rezension zu Walter Baier, Das kurze Jahrhundert. Kommunismus in Österreich. KPÖ 1918 bis 2008, Edition Steinbauer Wien 2009
Die Kommunistische Partei Deutschösterreichs, wie sie bei ihrer Gründung im November 1918 hieß, ist die zweitälteste Kommunistische Partei in Westeuropa und die fünftälteste weltweit. Sie entstand in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs, inmitten des Zerfalls der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Errichtung der ersten Republik Österreich, unter der entscheidenden Mitwirkung radikaler Intellektueller, aber weitgehend losgelöst von der österreichischen Arbeiterbewegung. Anders als in Deutschland, wo sich im April 1917 die USPD abgespalten hatte und sich bereits der Spartakusbund formiert hatte, hatten die Differenzierungsprozesse innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie den kritischen Punkt hingegen noch nicht erreicht.
All das schildert Walter Baier, von 1994 bis 2006 selbst Vorsitzender der KPÖ, in seiner Darstellung des "Kommunismus in Österreich" in sehr anschaulicher und lesenswerter Art und Weise.
Für Baier gilt dabei in besonderem Maße, was wohl grundsätzlich für jeden Historiker gilt: Je größer der zeitliche Abstand, desto größer die Chance einer von Vorurteilen nicht allzu sehr belasteten Bewertung. Insbesondere bei der Darstellung jener Ereignisse und Entwicklungen, in die er selbst in verantwortlicher Position involviert war, gelingt es Baier nur sehr unzureichend, die notwendige Distanz aufzubringen.
Eher dem Zeitgeist als der historischen Wahrheit verpflichtet ist über weite Strecken Baiers Darstellung der Verhältnisses von Kommunisten und Sozialdemokraten: Zwar schildert Baier die auch in den letzten Tages des Ersten Weltkriegs weitgehend ungebrochene Zustimmung Victor Adlers zur k.u.k.-Monarchie (S. 20), das von Karl Renner geforderte "Ja" bei dem von Hitler angeordneten "Volksentscheid" über den Anschluß Österreichs (S. 55) und schließlich die Bemühungen der führenden Sozialdemokraten in den Jahren nach 1945, sich umgehend aller eigenen Mitglieder und Funktionäre zu entledigen, die die Angebote und Vorschläge der Kommunisten zum gemeinsamen Handeln nicht rigoros ablehnten. Doch ist es ausschließlich seine Partei, die KPÖ, der Baier regelmäßig Sektierertum im Verhältnis zur anderen Partei unterstellt.
Zweifellos ein Höhepunkt des Buches sind die ausführlichen Berichte Baiers über den vielfältigen und aufopferungsvollen antifaschistischen Widerstandskampf der österreichischen Kommunisten, über ihre Rolle in den Internationalen Brigaden in Spanien oder auch in eigenständigen Partisaneneinheiten in Jugoslawien.
Doch auch hier ignoriert Baier wichtige Aspekte: Richtig ist, daß die Kommunistische Partei Österreichs nach dem Anschluß an Hitlerdeutschland im März 1938 die profilierteste und engagierteste Kraft im Kampf um die Wiedererrichtung der österreichischen Nation war. Entsprechend sind die Schilderungen Baiers. Doch er blendet dabei - aus welchen Gründen auch immer - den gemeinsamen (!) antifaschistischen Widerstandskampf deutscher und österreichischer Kommunisten aus. Sichtbarster Ausdruck dieser Gemeinsamkeit war die Tatsache, die allerdings bei Baier keinerlei Erwähnung findet, daß Johann Koplenig, der langjährige Vorsitzende der KPÖ, bis zum Kriegsausbruch im September 1939 de facto Mitglied der in Paris ansässigen Auslandsleitung der KPD war.
Völlig zu Recht kritisiert Baier, daß in früheren offiziellen Darstellungen der Geschichte der KPÖ die Rolle der Parteiführung im Moskauer Exil bis 1945 überbewertet wurde (S. 81). Jetzt begeht er den selben Fehler unter umgekehrten Vorzeichen: Dieser Teil der Parteigeschichte findet nun überhaupt nicht mehr statt.
Eine ausgesprochene Bereicherung des Buches sind die zahlreichen kurzen Biographien, die im Kontext der Parteigeschichte immer wieder eingefügt werden. Bemerkenswert ist dabei das Bemühen Baiers, auch den nicht wenigen Frauen in der österreichischen kommunistischen Bewegung eine angemessene Würdigung zuteil werden zu lassen.
Für den Leser in Deutschland ist insbesondere die kompakte Darstellung der faktischen Enteignung der KPÖ durch die Bundesrepublik Deutschland nach 1990 von Interesse: Angesichts der vollkommen unbewiesenen Behauptung der einschlägigen deutschen Behörden, angebliches Auslandseigentum der SED zu sichern, wurden im Jahre 2008 im Rahmen eines in jeder Hinsicht fragwürdigen Vergleichs nicht weniger als 120 Millionen Euro von Schweizer Konten der KPÖ in den deutschen Staatshaushalt transferiert. Die KPÖ, die durch jahrzehntelange erfolgreiche Wirtschaftstätigkeit eine der reichsten Parteien Westeuropas geworden war, hatte nach dem von Deutschland geforderten Einfrieren ihrer sämtlichen Konten buchstäblich nicht mehr das Geld gehabt, um den juristischen Kampf zur Verteidigung ihres rechtmäßigen Eigentums fortsetzen zu können.
Offensichtlich gescheitert ist Baier mit seinem Versuch, die jüngste Entwicklung der KPÖ und ihre faktische Spaltung in drei Strömungen unvoreingenommen darzustellen. Denn hier geht es um seine eigenes Wirken als Parteivorsitzender, aber auch und vor allem um Verletzungen, die ihm persönlich in den zum Teil jahrelangen parteiinternen Auseinandersetzungen zugefügt wurden.
Bedauerlicherweise hat Baier insgesamt darauf verzichtet, interne Dokumente aus dem zweifellos umfangreichen Parteiarchiv der KPÖ zu verwenden. Selbst bei der Darstellung so gravierender Einschnitte in der Parteigeschichte wie dem 19. Parteitag 1967 und den nachfolgenden Ereignissen beschränkt er sich auf die Wiedergabe bereits früher zugänglicher Reden und Erklärungen, wobei er dennoch sehr überzeugend die für Außenstehende damals kaum erkennbaren Hintergründe aufzeigt.
Gelegentlich gibt Baier - bewußt oder unbewußt - Hinweise auf bisher unbearbeitete Forschungsthemen, so zum Beispiel in Zusammenhang mit dem sogenannten Auschwitz-Text von Alfred Klahr, der der KPD in dem 1944 - während der Haft im KZ Auschwitz - entstandenen Text vorwarf, in der Weimarer Republik "sich in der nationalen Frage ins Schlepptau des Nationalsozialismus begeben zu haben" (S. 86).
Ärgerlich sind gelegentliche historische Ungenauigkeiten. So wurde Gorbatschow im März 1985 nicht vom 27. Parteitag der KPdSU zum Generalsekretär gewählt, sondern - nach dem Tod seines Vorgängers Tschernenko - von einer außerordentlichen Tagung des Zentralkomitees. Der 27. Parteitag fand erst ein Jahr später, im Februar und März 1986, statt (S. 193).
Wer sich der genannten Unzulänglichkeiten bewußt ist, wird das Buch dennoch mit großem Gewinn lesen.
* JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung
Letzte Änderung: 11. November 2011