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Ausgewählte Artikel - 2011
JahrBuch für Forschungen ...* - Januar 2011

Arthur Ewert und Elise Saborowski

Zwei Deutsche in der frühen kommunistischen Bewegung Kanadas

Arthur Ewert (1890-1959) war in den zwanziger Jahren, zuletzt als Mitglied des Politbüros und des Politsekretariats des ZK, eine der führenden Persönlichkeiten der Kommunistischen Partei Deutschlands. Zeitweise war sein Einfluss größer als der von Ernst Thälmann. Als "Versöhnler" verlor er in einem innerparteilichen Machtkampf 1928/1929 (im Gefolge der sogenannten Wittorf-Affäre) auf persönliche Weisung Stalins seine Funktionen in der KPD. In der Folge setzte ihn die Kommunistische Internationale u. a. in China und in Lateinamerika ein. 1935 wurde er in Brasilien verhaftet und so grausam gefoltert, dass er den Verstand verlor. 1945 amnestiert, kam er 1947 in die damalige Sowjetische Besatzungszone Deutschlands, wo er bis zu seinem Tod in einem Pflegeheim lebte.

Elise Saborowski (1886-1939), genannt Sabo, war die langjährige Lebensgefährtin und spätere Ehefrau von Arthur Ewert. Sie arbeitete im Apparat der Komintern bzw. der KPD, u. a. in dem von Clara Zetkin geleiteten westeuropäischen Frauensekretariat in Berlin. Sie wurde 1936, gemeinsam mit Olga Benario-Prestes, von Brasilien an Deutschland ausgeliefert und dort in den Konzentrationslagern Lichtenburg und Ravensbrück eingesperrt. Sie starb an den Folgen der unmenschlichen Haftbedingungen.

Im Mai 1914 verließen Arthur Ewert und Elise Saborowski Deutschland, ihr Ziel war Kanada. Über die Hintergründe und Umstände dieser Reise ist nichts bekannt.(2) Es ist nicht einmal überliefert, ob die Reise als dauerhafte Auswanderung gedacht war oder ob es sich nur um einen mehrjährigen, aber zeitlich begrenzten Aufenthalt auf dem nordamerikanischen Kontinent handeln sollte, mit dem beispielsweise verhindert werden sollte, dass Arthur Ewert - kurz vor dem Ersten Weltkrieg - als Soldat eingezogen wurde. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auch Andreas Ewert, der Bruder von Arthur Ewert, fast gleichzeitig Deutschland verließ: Er ging nach Norwegen, wo er sehr bald heiratete und mit seiner norwegischen Frau zwei Töchter hatte.

Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass Karl Liebknecht die Entscheidung von Arthur Ewert und Elise Saborowski beeinflusst haben könnte, nach Nordamerika zu gehen: Liebknecht, der in Berlin lebte und arbeitete, war als langjähriger Vorsitzender der Sozialistischen Jugend-Internationale eng mit der Arbeiterjugendbewegung in Deutschland und in Berlin verbunden. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann davon ausgegangen werden, dass er auch Arthur Ewert und Elise Saborowski kannte. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass Sabo während ihrer Zeit in Nordamerika in engem brieflichen Kontakt zu Lucie Peters stand, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Bruno Peters wenige Jahre später zur Berliner Basis des Spartakusbundes gehörte.(3) Und bei der Verhaftung von Arthur Ewert und Elise Saborowski in Toronto im März 1919 wurden Briefe gefunden, die nach Darstellung der kanadischen Polizei von "Personen [stammten], die mit Liebknecht und Luxemburg zusammenarbeiteten."(4) Hinzu kommt, dass Karl Liebknecht im Herbst 1910 selbst mehrere Wochen als Gast der Sozialistischen Partei Amerikas in den USA gewesen war und dort zahlreiche persönliche Kontakte – auch nach Kanada – geknüpft hatte.(5) Im April 1921 schließlich notierte ein Hallenser Haftrichter, der gegen Arthur Ewert einen Haftbefehl wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" erlassen hatte, nach dem gerichtlichen Haftprüfungstermin: "Es scheint aus seinen Äußerungen über den Sinn seiner Reise nach Amerika hervorzugehen, daß ihm dort auch internationale kommunistische Arbeit übertragen war."(6)

Nach Ermittlungen der kanadischen Polizei, die im April 1919 der Presse bekannt gemacht wurden, waren Arthur Ewert und Elise Saborowski von Europa aus zunächst in die USA gereist und von dort aus auf dem Landweg nach Kanada gelangt.

Kanada gehörte als britisches Dominion vom Beginn des Ersten Weltkriegs an zu den Krieg führenden Parteien. Arthur Ewert und Elise Saborowski, die als Deutsche automatisch als feindliche Ausländer galten, mussten also sehr bald nach ihrer Ankunft in Kanada untertauchen, um einer Internierung für die Dauer des Krieges zu entgehen. Möglicherweise war dies auch einer der Gründe, warum sich Arthur Ewert und Elise Saborowski im Herbst 1914 zeitweise trennten: Während Arthur Ewert in Kanada blieb, kehrte Sabo in die USA zurück, die erst im April 1917 in den Ersten Weltkrieg eintraten und daher für deutsche Staatsangehörige zunächst vergleichsweise sicher waren. Anfangs ging Elise Saborowski nach Chicago, wo sie den Winter 1914/1915 verbrachte, dann nach Jackson, eine kleine Stadt etwa auf halbem Wege zwischen Chicago und Detroit. Dort arbeitete sie in der örtlichen Telefongesellschaft, plante aber eine Ausbildung als Fotografin.(7)

Zu diesem Zeitpunkt war Sabo bereits Mitglied einer sozialdemokratischen oder sozialistischen Partei in den USA geworden, sodass sie in einem Brief nach Deutschland vom 11. Mai 1915 schreiben konnte: "Unsere Partei fängt jetzt an, ihre Zusammenkünfte draußen abzuhalten. Auch Picknicks und Ausflüge sind im Sommerprogramm vorgesehen. In Chicago hätte ich zwar mehr Gelegenheit, am Parteileben teilzunehmen, aber man kann nicht alles haben."(8)

Über Arthur Ewert berichtete Elise Saborowski in diesem Brief: "Arthur Ewert ist äußerst tätig in Winnipeg. Am 1. Mai hatten sie eine Maidemonstration, etwa 6.000 bis 8.000 Teilnehmer. Am Marktplatz waren 6 Tribünen aufgestellt, von denen in 6 Sprachen geredet wurde. A[rthur] E[wert] hat als deutscher Redner fungiert. Das Parteileben spielt sich eben auch hier im amerikanischen Stil ab."(9)

Dem Brief von Elise Saborowski ist allerdings nicht zu entnehmen, welcher Partei sie bzw. Arthur Ewert sich angeschlossen hatten. In den Kaderunterlagen von Elise Saborowski, die im Moskauer Komintern-Archiv aufbewahrt werden, ist lediglich vermerkt, dass sie von 1914 bis 1920 Mitglied der Sozialistischen Partei (Socialist Party) Amerikas [der offizielle Name der 1901 gegründeten Partei enthielt nicht Amerika] war.(10) Doch trifft offensichtlich nur auf die Zeiten des Aufenthaltes von Elise Saborowski in den USA zu.

Wesentlich wichtiger war die Mitgliedschaft von Arthur Ewert und Elise Saborowski in der kanadischen Sozialistischen Partei Nordamerikas (Socialist Party of North America; SPNA), auch wenn diese Mitgliedschaft in den Kaderunterlagen im Moskauer Komintern-Archiv weder für ihn noch für sie vermerkt ist. Doch bestätigen Zeitzeugenberichte, dass Arthur Ewert Mitglied der SPNA war.(11) Und es scheint ausgeschlossen, dass Arthur Ewert und Elise Saborowski unter den gegebenen Bedingungen in Kanada unterschiedlichen Parteien angehörten.

Die Sozialistische Partei Nordamerikas (Socialist Party of North America; SPNA) war 1911 als gemeinsame Plattform jener radikalen sozialistischen Kräfte in Kanada entstanden, die sich durch die beiden vergleichsweise großen, überwiegend reformistischen Arbeiterparteien, die 1901 gegründete Sozialistische Partei Kanadas (Socialist Party of Canada; SPC) und die Sozialdemokratische Partei Kanadas (Social Democratic Part of Canada; SDP), nicht vertreten fühlten.(12) Die SPNA, die niemals mehr als etwa hundert aktive Mitglieder zählte, hatte ihren geografischen Schwerpunkt im Gebiet von Toronto, also im südlichen Teil der Provinz Ontario. Doch sie verfügte über stabile Verbindungen in andere Teile Kanadas, so in die Provinz Manitoba mit der Hauptstadt Winnipeg, sowie in die USA, insbesondere in das Gebiet von Detroit.

Die Arbeiterbewegung in Kanada hatte in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg einen beträchtlichen Aufschwung genommen, doch mit dem Ausbruch des Krieges kam sie faktisch vollständig zum Erliegen. Erst im Verlaufe des Jahres 1917, auch beeinflusst durch erste Berichte über die Februarrevolution in Russland mit dem Sturz des Zaren und der Errichtung einer bürgerlichen Republik, kam es erneut zu größeren ökonomischen Streiks, die gelegentlich bereits mit politischen Forderungen verbunden wurden. Entscheidend für das Wiedererstehen einer kanadischen Arbeiterbewegung und die Formierung radikaler Parteien und Organisationen waren jedoch der Sieg der Oktoberrevolution in Russland 1917 und die 1918 daraus resultierende Entscheidung der kanadischen Regierung, sich mit eigenen Truppen an der militärischen Intervention gegen Sowjetrussland zu beteiligen.(13)

Die gesamte kanadische Linke stand somit im Verlaufe des Jahres 1918 vor der Notwendigkeit, ihre Position gegenüber der Oktoberrevolution in Russland zu bestimmen. Dabei ging es nicht nur darum, theoretische Fragen aufzugreifen und zu diskutieren, sondern Schlussfolgerungen für das eigene praktische politische Handeln zu ziehen. Keine andere Partei in Kanada bekannte sich dabei mit einer solchen Konsequenz zur Oktoberrevolution wie die Sozialistische Partei Nordamerikas, die auf diese Weise zur Keimzelle der kommunistischen Bewegung in Kanada wurde.

Die Diskussions- und Klärungsprozesse, die sich dabei innerhalb der SPNA vollzogen, sind nicht dokumentiert. Es gibt lediglich einen kurzen, wenig detaillierten Bericht von Florence Custance, die 1918 und 1919 zu den maßgeblichen Persönlichkeiten innerhalb der SPNA zählte: Im Jahre 1926 berichtete sie in "The Worker", der Zeitung der Kommunistischen Partei Kanadas, dass es nach der Oktoberrevolution in Russland innerhalb der SPNA zu heftigen und sehr grundsätzlichen Diskussionen kam. Eine zunächst kleine Gruppe, die in der Folge die Mehrheit innerhalb der Partei erringen konnte, begrüßte und unterstützte die russischen Ereignisse von Anfang an uneingeschränkt, während eine andere Gruppe die russische Revolution zunächst "als wildes Experiment einer Handvoll von Männern" kritisierte, die "nach einem Leben im Exil nach Russland" zurückgekehrt waren, ohne die dortigen Verhältnisse wirklich zu kennen.

Letztlich setzte sich eine Position durch, die Florence Custance so beschrieb: "Es wurde die Notwendigkeit der Arbeit in den Gewerkschaften betont, und es wurde festgestellt, dass diese Frage unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes gesehen werden muss, und nicht als eine reine und simple Angelegenheit der Löhne. [...] Es wurde die Nützlichkeit eines Generalstreiks im Prozess des revolutionären Kampfes anerkannt. (Diese Form des Kampfes war zuvor immer als eine reine Gewerkschaftstaktik charakterisiert worden.) Man bekräftigte, dass der Parlamentarismus seine Grenzen hat und dass der Klassenkampf nicht innerhalb dieser Grenzen des Parlamentarismus geführt werden kann. [...] Und schließlich wurde die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstands für die Errichtung der Arbeitermacht anerkannt."(14) Betrachtet man das spätere Engagement von Arthur Ewert in der Gewerkschafts- und Betriebsrätebewegung in Deutschland, so kann eigentlich kein Zweifel bestehen, dass er, wie sicher auch Elise Saborowski, diese Mehrheitsposition innerhalb der SPNA nicht nur unterstütze, sondern wohl maßgeblichen Anteil an ihrem Zustandekommen hatte.

Ab dem Sommer 1918 gab die SPNA erstmals eine eigene Zeitung heraus, die den Titel "The Marxian Socialist" trug. Diese Zeitung löste mit ihren zum Teil sehr kontroversen Positionen einen heftigen Meinungsstreit in der breit gefächerten kanadischen Linken aus. Anfang September 1918 erschien in ihr ein Leitartikel, der faktisch ein Aufruf zur Gründung einer kommunistischen Partei in Kanada, einer "Partei neuen Typs" nach dem Vorbild der russischen Bolschewiki, war: "Die Zeit ist reif für die Einheit der Revolutionäre in Kanada. Die Schaffung einer Organisation, die eine landesweite Organisation nicht nur dem Namen nach, sondern tatsächlich ist, und die bereit ist, den Kampf gegen die politischen Kräfte der herrschenden Klasse zu führen, ist angesichts der sich in diesen Tagen und Wochen schnell entwickelnden Ereignisse eine zwingende Notwendigkeit. Statt örtlicher kraftloser Anstrengungen brauchen wir eine landesweite gemeinsame Anstrengung, statt Geredes brauchen wir Taten. Der nächste Schritt muss die Einberufung eines Kongresses mit dem Ziel sein, alle Revolutionäre im Kampf gegen die herrschende Klasse und im Kampf gegen die Opportunisten zu vereinen."(15)

Etwa zur gleichen Zeit beauftragte die kanadische Regierung einen hochrangigen Beamten, den Juristen Charles H. Cahan, mit einer Untersuchung über eine unterstellte Gefährdung Kanadas durch das Anwachsen der radikalen Linken, das in der offiziellen Sicht ausschließlich auf das Wirken ausländischer Aktivisten, insbesondere vermeintlicher Abgesandter der russischen Bolschewiki, zurückgeführt wurde. Auftragsgemäß stellte Cahan in seinem Report fest, dass die gegen Personen deutscher oder österreichischer Herkunft ergriffenen Maßnahmen, also beispielsweise ihre Internierung für die Dauer des Krieges, wirksam durchgesetzt worden waren. Es habe aber bedauerlicherweise keine gesetzlichen Bestimmungen gegeben, die ein solches Vorgehen auch gegen Personen russischer, ukrainischer oder finnischer Herkunft erlaubten, die sich tatsächlich oder vermeintlich in ganz Kanada in linken Gruppen organisiert hatten und so angeblich eine unmittelbare Bedrohung der etablierten staatlichen Ordnung darstellten.

Bereits am 27. September 1918 erließ die Regierung eine spezielle Verordnung, mit der zunächst dreizehn linke Parteien und Organisationen verboten wurden. Die Spannweite reichte von der vergleichsweise großen und einflussreichen Sozialdemokratischen Partei Kanadas bis hin zu Splittergruppen, die faktisch nur dem Namen nach existierten. Die Sozialistische Partei Nordamerikas, die Partei von Arthur Ewert und Elise Saborowski also, stand erstaunlicherweise nicht auf der ursprünglichen Liste. Ihr Verbot erfolgte erst einige Wochen später, nachdem es am 19. und 20. Oktober 1918 bei einer groß angelegten Razzia im gesamten südlichen Ontario zu Massenverhaftungen gekommen war.

Mit der Verordnung vom 27. September 1918 wurden jedoch nicht nur linke Parteien und Organisationen verboten. Auch der Besitz und die Verbreitung von sogenannten staatsgefährdenden Schriften, und dazu zählten nicht nur die Werke von Karl Marx oder Friedrich Engels, sondern beispielsweise auch die Arbeiten des antiken griechischen Philosophen Plato, wurde unter Strafe gestellt, wobei der mögliche Rahmen von einer empfindlichen Geldstrafe bis zu langjähriger Haft reichte. Verboten wurden schließlich auch öffentliche Veranstaltungen jeder Art, außer Gottesdiensten, die in russischer, ukrainischer oder finnischer Sprache abgehalten wurden, sowie generell alle linksgerichteten politischen Kundgebungen, Zusammenkünfte und sonstigen Aktivitäten.

Doch die Regierungsverordnung vom 27. September 1918 bewirkte letztlich das Gegenteil dessen, was die Behörden mit diesem Schritt beabsichtigt hatten: Die Linke in Kanada formierte sich im Widerstand gegen die verfügten Verbote und die damit verbundenen Willkürakte. Insbesondere nach dem Waffenstillstand und dem Ende des Ersten Weltkrieges Anfang November 1918 mehrten sich die öffentlichen Proteste gegen die wahllose Verhaftung und Verurteilung von tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen linken Aktivisten, und es wurde massiv die Forderung erhoben, angesichts des Kriegsendes nunmehr alle Beschränkungen der politischen Betätigung wieder aufzuheben.

Mitte November 1918 kam es zu einem Ereignis, das für eine bis dahin in Kanada nicht gekannte öffentliche Aufmerksamkeit sorgte: Im gesamten südlichen Ontario wurden innerhalb einer Nacht Zehntausende Exemplare eines in höchstem Maße ungewöhnlichen Flugblattes verteilt. Das Flugblatt war in guter Qualität gedruckt worden und wurde in unauffälligen Briefumschlägen verteilt, die in Briefkästen deponiert oder unter Wohnungstüren hindurchgeschoben wurden, wo die überraschten Bewohner sie am nächsten Morgen fanden. Es trug den Titel "Der Frieden und die Arbeiter" und richtete sich gegen die "verlogenen Siegesfeierlichkeiten". Es forderte, in Kanada "Arbeiter- und Soldatenräte zu errichten". Nur die "Überwindung der Macht der Kapitalisten und ihrer Institutionen" könne die "Grundlage dafür legen, dass [...] die Arbeiter ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen."(16)

Die gesamte kanadische Presse berichtete ausführlich über die Flugblattaktion, deren Urheber trotz aller Bemühungen der Polizei nicht festgestellt werden konnten. Mehr noch, viele Zeitungen veröffentlichten längere Auszüge oder sogar den gesamten Text des Flugblattes, sodass sein Inhalt weit über das Gebiet des südlichen Ontario hinaus Verbreitung fand. Zwei weitere Flugblätter folgten – in der Neujahrsnacht und Anfang Februar 1919. Diesmal hatten die Flugblätter einen Absender, den "Provisorischen Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten Kanadas".

Urheber dieser aufsehenerregenden Flugblattaktionen, waren Mitglieder der inzwischen illegalen Sozialistischen Partei Nordamerikas, die mit großer Einsatzbereitschaft, viel Phantasie und persönlichem Mut handelten und nach denen die kanadische Polizei weiterhin vergeblich suchte. Fünf Jahre später berichtete Elise Saborowski in der von der KPD herausgegebenen illustrierten Zeitschrift "Der Rote Stern" unter dem Titel "Wie wir Flugblätter druckten" über die Ereignisse Ende 1918/Anfang 1919 in Kanada.(17) (s. Dokument 1)

Im Frühjahr 1919 gelang es der kanadischen Polizei festzustellen, wer für die Herstellung und die Verteilung der Flugblätter verantwortlich war: Am 23. März 1919 wurden Arthur Ewert, Elise Saborowski und Lieb Samsonovitch, ein aus Russland stammender Mitkämpfer, im Zuge einer breit angelegten Razzia in einem Vorort von Toronto verhaftet. Die kanadische Presse nahm von dieser Verhaftung zunächst kaum Notiz. Lediglich einige Zeitungen aus dem südlichen Ontario, so der "Globe" und die "Toronto Times", berichteten Anfang April 1919 sehr allgemein davon, dass die Polizei mit einem Großeinsatz gegen eine Kundgebung von "Sozialisten und radikalen Gewerkschaftern" in der Spadina Hall auf dem Gelände der Universität von Toronto vorgegangen war, die sich gegen die Verhaftung von "drei örtlichen Sozialisten" richtete.(18)

Erst einige Wochen später, am 28. April 1919, brachte die kanadische Polizei die ganze Angelegenheit auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz spektakulär an die Öffentlichkeit. Und nun griffen auch alle wichtigen kanadischen Tageszeitungen das Thema auf und erschienen am folgenden Tag mit groß aufgemachten und sehr dramatischen Schlagzeilen. Die "Toronto World" titelte: "Polizei verhaftete die Führer der Bolschewisten von Toronto". Und die "Toronto Times" erschien mit der Überschrift: "Bolschewistische Propaganda in Kanada auf Agenten aus Deutschland und Russland zurückzuführen".(19)

Die Stellungnahme der Polizei zur Verhaftung von Arthur Ewert, Elise Saborowski und Lieb Samsonovitch, die am 28. April 1919 gegenüber der Presse abgegeben wurde, enthielt einige wichtige und bis heute bemerkenswerte Details: Die Razzia am 23. März 1919 war nicht nur – wie sonst üblich – von der Stadtpolizei von Toronto durchgeführt worden, an dieser Aktion waren auch die Provinzpolizei von Ontario, die kanadische Staatspolizei und die kanadische Einwanderungsbehörde beteiligt gewesen. Das ist ein klarer Hinweis darauf, welche große Bedeutung die kanadischen Behörden dieser Aktion und vor allem den drei Personen beimaßen, um die es dabei ging. Sehr ausführlich wurde dargelegt, dass die drei Verhafteten unter falschen Namen in Kanada gelebt hatten: Arthur Ewert hatte den Namen Arthur Brown verwendet, Elise Saborowski war Annie Bancourt gewesen, und Lieb Samsonovitch, der erst wenige Monate zuvor aus New York nach Toronto gekommen war, hatte sich unter dem Namen Charles Charnie an der Universität von Toronto eingeschrieben. Voll scheinheiliger Empörung wiesen die Polizeibehörden darauf hin, dass Arthur Ewert und Elise Saborowski, obwohl offiziell nicht miteinander verheiratet, als Mann und Frau zusammengelebt hatten. Natürlich griffen die Zeitungen das begierig auf.

Besonderen Nachdruck legten die Polizeibehörden auf die Tatsache, dass Arthur Ewert, Elise Saborowski und Lieb Samsonovitch den "Kern einer Kommunistischen Partei" bildeten. In der Wohnung von Arthur Ewert und Elise Saborowski waren Waffen gefunden worden – drei neue Automatikrevolver, eine kleine deutsche Schusswaffe und eine größere Menge von Munition.(20) Da diese Waffen jedoch kaum ausgereicht hätten, um einen bewaffneten Aufstand durchzuführen, mussten die immateriellen Waffen als Beweismittel herhalten, die bei den Wohnungsdurchsuchungen ebenfalls beschlagnahmt worden waren: "Zusätzlich [fand man] eine größere Menge bolschewistischer Literatur, darunter das Programm einer Kommunistischen Partei, in dem in einem Punkt zum Sturz der verfassungsmäßigen Regierung Kanadas aufgerufen wurde."(21)

Bei diesem Dokument handelte es sich offensichtlich um den Text eines zweiseitigen Flugblattes, das ungeachtet der Verhaftung von Arthur Ewert, Elise Saborowski und Lieb Samsonovitch in gewohnter Weise in der Nacht zum 1. Mai 1919 in hoher Auflage im gesamten südlichen Ontario verteilt wurde: Auf der einen Seite war unter dem Titel "May Day" ein Aufruf zum 1. Mai 1919 abgedruckt, auf der anderen Seite das erwähnte "Programm der Kommunistischen Partei Kanadas" (s. Dokument 2) Gezeichnet war das Programm mit "Zentrales Exekutivkomitee, Kommunistische Partei Kanadas".(22)

Für gewöhnlich wird als Gründungsdatum der Kommunistischen Partei Kanadas der 28. und 29. Mai 1921 genannt, als sich auf einer streng konspirativen Konferenz in Guelph in der Provinz Ontario zahlreiche linksgerichtete kanadische Organisationen zu einer einheitlichen Partei zusammenschlossen.(23) Doch das Flugblatt aus dem Frühjahr 1919 beweist, daß es bereits mehr als zwei Jahre zuvor in Kanada einen ernsthaften Versuch gegeben hatte, eine Kommunistische Partei zu gründen. Die Tatsache, daß dieser Versuch letztlich scheiterte, hing aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Verhaftung von Arthur Ewert zusammen: Arthur Ewert war nach Erkenntnissen der kanadischen Polizei der intellektuelle und organisatorische Kopf des gesamten Projekts, nun aber hatte er keine Möglichkeit mehr, auf die weiteren Geschicke der eben erst gegründeten Kommunistischen Partei Kanadas Einfluß zu nehmen. Zu dem fielen der Polizei bei seiner Verhaftung zahlreiche Briefe und andere Dokumente in die Hände, die nicht nur bewiesen, daß Arthur Ewert im Mittelpunkt eines weitgeknüpften Netzes von Gleichgesinnten stand, das bis nach Winnipeg, Kitchener, Hamilton, Brantford und Vancouver in Kanada und Detroit in den USA reichte. Die Polizei verfügte jetzt auch über alle notwendigen Informationen, um dieses Netz dauerhaft zu zerschlagen, wie die "Toronto Times" am 29. April 1919 unter Berufung auf einen hochrangigen Polizeibeamten berichtete. Dieser hatte am Vortag auf der bereits erwähnten Pressekonferenz in Toronto voller Triumph berichtet, daß die Polizei nunmehr über eine "Liste mit etwa 1.000 Männern und Frauen [verfügen würde], die Mehrzahl von ihnen ausländischer Herkunft, die aktiv an der bolschewistischen Agitation teilnehmen." Und weiter: "Wir kennen also ihre Namen und wissen, wo sie beschäftigt sind. Wir können sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt festsetzen, und wir werden sie von jetzt an unter strenger Überwachung halten."(24)

Tatsächlich folgten am 1. Juni 1919 zahlreiche weitere Verhaftungen, und die Polizei verkündete, dass sich nunmehr alle Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Kanadas in Haft befinden würden. Ein erster Prozess gegen dreizehn Angeklagte fand am 10. Juni 1919 statt. Der Richter hatte das Urteil bereits vor Prozessbeginn schriftlich ausgefertigt, die verhängten Urteile reichten von sechs Monaten bis zu drei Jahren Haft.(25)

Arthur Ewert befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr in Kanada. Die Behörden hatten aus Gründen, die sich nicht mehr feststellen ließen, auf eine Anklage gegen ihn, Elise Saborowski und Lieb Samsonovitch verzichtet. Die beiden Männer kamen zunächst in das Zivilinternierungslager Kapuskasing im mittleren Ontario. Es war zu Beginn des Ersten Weltkrieges eingerichtet worden, um insgesamt etwa 1.200 Personen deutscher und österreichischer Herkunft aufzunehmen. Doch bereits nach wenigen Wochen wurden Arthur Ewert und Lieb Samsonovitch in die USA abgeschoben, da sie ursprünglich als illegale Einwanderer aus den USA nach Kanada gekommen waren. Arthur Ewert kehrte noch im Sommer 1919 nach Deutschland zurück, das er fünf Jahre zuvor verlassen hatte. Elise Saborowski blieb aus unbekannten Gründen in Toronto in Haft, sie konnte erst ein Jahr später, im März 1920, Kanada verlassen und nach Deutschland zurückkehren.(26)

Das Wirken von Arthur Ewert und Elise Saborowski blieb in Kanada noch viele Jahre in Erinnerung. So erschien am 30. Mai 1923 in "The Worker" ein Artikel von Arthur Ewert unter dem Titel "On the Way to the German Revolution" ("Auf dem Weg zur Revolution in Deutschland"). Diesem Artikel hatte der Herausgeber eine sonst nicht übliche kurze Vorbemerkung vorangestellt, in der ausdrücklich an Arthur Ewert erinnert wurde. Arthur Ewert, so hieß es in dem Editorial, sei "vielen kanadischen Arbeitern noch gut bekannt".(27)

Dokument 1 - Elise Saborowski: "Wie wir Flugblätter druckten"

Es war im Herbst 1918 in Kanada. Die kanadische Regierung hatte unsere Zeitung verboten. Es war unmöglich, genügend Material aus den Vereinigten Staaten über die Grenze zu bekommen, um den Arbeitern in den Industriestädten Kanadas die ungeheure weltgeschichtliche Bedeutung der Ereignisse der russischen Revolution und den Kampf der Bolschewiki um die Erhaltung der Macht der Arbeiterklasse nahe zu bringen. Wohl brachten die bürgerlichen Zeitungen viele Nachrichten über Rußland, aber es waren die Lügennachrichten, die sie brauchten, um unter der Arbeiterschaft Leute anzuwerben, die bereit waren, gegen die russischen Arbeiter und Bauern an der Murmanküste und in Sibirien zu kämpfen. Und die mit der revolutionären Bewegung noch wenig vertrauten Arbeitermassen konnten das Wahre vom Falschen nicht unterscheiden. In ihren Köpfen malte sich 'der Bolschewik' als ein blutrünstiger Tyrann und Despot, und die 'Sowjets' als irgendein Mordinstrument. Unsere Aufgabe war es, den Arbeitern klar zu machen, daß sie zum Kampf auszogen, um gegen die von blutiger Ausbeutung sich befreienden Arbeiter und Bauern Rußlands zu kämpfen und damit gegen ihre eigenen Interessen. Wir mußten ihnen das Wesen der Sowjets und die Ziele der Bolschewiki aufzeigen, um die Arbeiter von den Expeditionen zurückzuhalten. Eine Presse hatten wir nicht, so mußten wir Flugblätter herausgeben.

Es gab nur einen Drucker, der bereit war, unser Material zu drucken. Aber dieser Drucker war bei der Polizei schon so bekannt, daß er befürchtete, man würde ihm die Maschinen beschlagnahmen, wenn er weiter für die 'Extremists' arbeitete, andererseits wollte er sich auch den kleinen Verdienst nicht entgehen lassen. Wir kamen auf folgenden Ausweg: Der Inhaber der Druckerei sollte von den in seiner Werkstatt hergestellten Flugblättern nichts wissen.

Der erste Wurf gelang. Wir konnten in vier Städten im Osten Kanadas, überall dort, wo wir sympathisierende Arbeitergruppen hatten, in einer Nacht, in derselben Stunde, Zehntausende von Flugblättern verteilen. Gefaltet und in Couverts gesteckt, fanden die Bewohner der Arbeiterviertel eines Morgens in ihren Briefkästen oder unter ihrer Türe diese Flugblätter vor. Die Polizei tobte. Die bürgerliche Presse hetzte. Spaltenlang wurden unsere Flugblätter in den erschreckten Schmockblättern abgedruckt und kamen so zur Kenntnis weitester Kreise. Die Polizeibehörden hatte besonders die geheimnisvolle Art der Verbreitung in Rage gebracht. Tagelang beobachtete sie die verdächtigen Versammlungslokale und die Wohnungen bekannter Revolutionäre. Aber sie konnte nicht zugreifen. Man lud unseren Drucker zur Vernehmung, aber er konnte ruhig sagen, daß seines Wissens nichts in seiner Druckerei hergestellt worden sei. Man konnte es ihm nicht beweisen, aber man beobachtete nun dauernd sein Geschäft.

Unter der Arbeiterschaft hatten diese Flugblätter glänzend gewirkt. Sie brachten sie in die Fabriken mit und sprachen darüber. Der lange Krieg hatte auch in diesem von den Kriegsnöten nicht heimgesuchten Lande eine Kriegsmüdigkeit mit sich gebracht, und das Flugblatt löste diese zurückgehaltene Stimmung aus. Allmählich jedoch verebbte die Aufregung. Es war Zeit, ein neues Flugblatt herauszuwerfen. Und dieses Mal erschien das Flugblatt gesetzt in gutem Maschinendruck, in Linotyp. Neue Aufregung der Polizei und verstärkter Alarm der bürgerlichen Zeitungen. Die handgeschriebenen Flugblätter hatten sie noch nicht so aufgeregt, aber ein Flugblatt, das anscheinend in einer guten, erstklassigen Druckerei hergestellt war, ließ auf eine große Organisation, auf Geldmittel und einen gewissen Apparat schließen, und das war ihnen unheimlich. Sie verglichen die Typen mit den Typen aller ihnen bekannten Druckereien, aber vergeblich. Der Drucker war nicht festzustellen. Und wie machten wir das? Ein Genosse von uns hatte einige sympathisierende Freunde, die in einer großen bürgerlichen Zeitungsdruckerei beschäftigt waren. Diese setzten stückweise, absatzweise das Flugblatt und brachten die gesetzten Stücke heraus, die wir dann zusammensetzten und auf einer kleinen Handpresse abzogen. So gelang es uns noch mehrere Male, Flugblätter herauszugeben, ohne daß trotz eifrigster Nachforschungen der Polizei Drucker oder Verteiler festgestellt werden konnten.

Die Geldmittel für unsere Propaganda brachten wir durch hohe Beiträge in unserem eigenen Kreis und vorsichtige Sammlungen in den Betrieben auf. Außerdem veranstaltete eine ukrainische Liebhabertheatergruppe, deren Leiter mit uns sympathisierte, Aufführungen von Volksstücken, von deren Überschüssen ein Teil in unseren Propagandafonds floß. Die Verteilung der Flugblätter fand in allen Städten in derselben Nacht und zu derselben Stunde statt, die wir jedesmal anders festsetzten, um der Aufmerksamkeit der Polizei zu entgehen. Wir hatten die Straßen so eingeteilt, daß jeder seine Flugblätter in einer Stunde verteilt haben konnte. Oft hatten wir Schwierigkeiten zu bestehen, besonders im Transport der Flugblätterballen von der Druckerei an den Ort, wo sie gefaltet und in Umschläge gesteckt wurden. Einmal brach auf der Straße das kleine Auto zusammen, das mit unseren Flugblattpaketen beladen war. Ein Polizist ging vorbei, aber auf den Paketen standen Milchkannen, und ahnungslos ging er vorüber. Schwierig war es auch, mit einzelnen Paketen durch die Straßen zu gehen, denn zu jener Zeit war das Alkoholverbot erst vor kurzem durchgeführt worden, und die Polizeibeamten in Zivil und Uniform hatten das Recht, jeden auf der Straße anzuhalten, der mit einem Köfferchen oder Paket ging, und sich den Inhalt zeigen zu lassen. – Dies wurde auch häufig durchgeführt und nicht ohne Erfolg, so daß man stets gewärtig sein konnte, von jedem Polizisten angehalten zu werden. Aus diesem Grunde haben wir auch die Bahn zum Transport der Flugblätter nach den anderen Orten nie benutzt, da Revisionen des Gepäcks häufig vorkamen. – Unsere Flugblattverbreitung weitete sich aus. Neue Orte kamen mit uns in Verbindung. Die Welle der Sympathie wuchs. Die Arbeiter warteten schon mit einer gewissen Spannung, wann wieder ein neues Flugblatt zur Verteilung kommen würde. Durch die Schnelligkeit der Verteilung und die Vorsicht unserer kleinen Gruppe gelang es, Verhaftungen zu entgehen.

Inzwischen war der Waffenstillstand eingetreten, die Soldaten strömten in die Heimat zurück, die Fabriken stellten die Munitionsfabrikation ein, die Arbeiter wurden entlassen, Streiks waren an der Tagesordnung, und dahinter wuchs die Sympathie mit Sowjetrußland. Wir begannen, die Verbindungen mit den Soldaten aufzunehmen. Oft hörte man, daß Expeditionsschiffe nach Sibirien ihre Fahrt unterbrechen mußten, weil 'Kessel nicht in Ordnung waren'. Erst später erfuhren wir, daß die Ursache dieser unterbrochenen Expeditionen Meutereien der Soldaten waren, die sogar die Schiffe auf hoher See unbrauchbar machten. Die Regierung fürchtete große Unruhen. Sie erließ Verordnung auf Verordnung gegen die 'Extremisten', um der revolutionären Propaganda Herr zu werden. Die bekanntesten Genossen wurden unter den nichtigsten Vorwänden verhaftet, Haussuchungen fanden statt. Fast schien es, als sollte der kleine Kreis, in dessen Händen die Organisation unserer illegalen Flugblätter lag, vernichtet werden. Eines Tages wurden etwa 12 unserer Genossen und 40 chinesische Studenten verhaftet. Durch diese Verhaftungen bekamen wir die Verbindung mit den chinesischen nationalen Revolutionären, die mit dem Bolschewismus sympathisierten. – Immer, wenn eine Verhaftung stattfand, brachten wir sofort ein Flugblatt heraus, um den Verdacht von dem verhafteten Genossen abzulenken. – Aber die Verhaftungen häuften sich. Aber auch die Saat, die wir gesät, ging auf. Unsere Versammlungen bekamen einen großen Zulauf, und wenn auch viele unserer Genossen zu langen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt wurden, der Kreis wuchs und ist heute der Kern der Kommunistischen Partei Kanadas. Aber die Polizei Kanadas hat niemals erfahren, wie und wo wir unsere Flugblätter druckten.

Quelle: Der Rote Stern (Berlin), 1924, Nr. 5, 5.8.1924.

Dokument 2 - Programm der Kommunistischen Partei Kanadas(28)

Ziel der Kommunistischen Partei Kanadas ist es, die Arbeiterklasse in Kanada zu organisieren und auf die soziale Revolution und die Errichtung der Diktatur des Proletariats vorzubereiten. Der revolutionäre Teil der Arbeiterklasse muss die Führung im Klassenkampf gegen die Bourgeoisie übernehmen und die Masse der Arbeiter für den entscheidenden Kampf zur Errichtung des Kommunismus gewinnen.

Die Taktik der sozialistischen Parteien hat bisher darin bestanden, die politischen Institutionen des Kapitalismus zu nutzen. Zwei Gründe werden für gewöhnlich genannt, um diese Taktik zu unterstützen: 1. Die Arbeiter müssen nur eine Mehrheit in das Parlament wählen, das dann 'durch die Gesetzgebung die Kapitalisten aus dem Geschäft drängt.' Unterdessen müssen soziale Reformen befördert werden, die den Prozess des Hinüberwachsens in den Sozialismus einfacher machen. 2. Das Parlament kann für Zwecke der politischen Agitation genutzt werden. Diese beiden Gründe erwiesen sich schon bei den Ereignissen des Krieges 1914-1918 als hinfällig. Die parlamentarisch orientierten sozialistischen Parteien kollabierten und gingen auf die eine oder andere Weise in das imperialistische Lager über, oder sie degenerierten zu rein pazifistischen Organisationen, die lediglich über den Horror des Blutvergießens klagten und die Abschaffung solcher 'elementaren Rechte' wie die Rede- und die Pressefreiheit bedauerten. Beide Richtungen forderten den Frieden, aber sie forderten keinen Frieden der Arbeiter, der seine Grundlage im Sieg der Arbeiter über die Kapitalistenklasse gehabt hätte, und sie kämpften auch nicht für einen solchen Frieden. Ihr ganzes Verhalten beweist, dass sie nicht zu einer einzigen Handlung fähig sind, die nicht im Rahmen der Institutionen des Kapitalismus erfolgt. Die Zerstörung der kapitalistischen Staatsmaschinerie und die Errichtung von Institutionen der Arbeiter kam ihnen nie in den Sinn – die sozialistische Mehrheit handelt nicht, und sie lernt nichts hinzu.

Die Übernahme der Macht durch die Arbeiter Russlands unter Führung der bolschewistischen Kommunistischen Partei im November 1917 stellte den Wendepunkt für die Bewertung der sozialistischen Taktik dar. Die alten parlamentarischen Konzeptionen wurden einer grundsätzlichen Kritik unterzogen, und in allen Ländern entstanden langsam Arbeitergruppen, die die Taktik der Bolschewiki unterstützen. Selbstverständlich bestehen viele dieser Gruppen aus 'revolutionären Phrasendreschern', die diese Taktik nur in Worten, aber niemals in Taten akzeptieren. Diese Phrasendrescher sind daran erkennbar, dass sie die Parlamente zur 'Agitation' nutzen wollen.

Die Taktik der Bolschewiki basiert auf der Tatsache, dass wir die Institutionen des Kapitalismus nicht für unsere Befreiung brauchen, sondern dass wir sie zerstören und durch unsere eigenen Institutionen ersetzen müssen, denn der Erfolg der sozialen Revolution kann nur durch die Bewaffnung der Arbeiter und die Entwaffnung der Kapitalisten und ihrer Gefolgsleute gesichert werden.

Die Kommunistische Partei Kanadas ist auf dieser Grundlage entstanden. Wir lehnen das parlamentarische Handeln als gefährlich und verlogen ab. Wir wissen, dass das Parlament, selbst wenn es ausschließlich mit Repräsentanten der Kapitalisten besetzt ist, nur eine Schwatzbude ohne exekutive Kraft ist. Die Parlamentarier sind die besten Wachleute des Kapitalismus gegen die Aktionen der Arbeiter. Statt uns auf die kapitalistischen Institutionen zu stützen, ist es unsere Aufgabe, die Arbeiter zur Übernahme der Macht und zur Vernichtung der Macht der Bourgeoisie zu führen.

Die Rolle des Generalstreiks in der sozialen Revolution besteht darin, den Weg zum Bürgerkrieg zwischen Arbeitern und Kapitalisten zu öffnen. Zu sagen, dass sich die Arbeiter allein durch den Generalstreik selbst befreien könnten, ist lächerlich – er ist nur ein Teil der Aktionen, die notwendig sind, um den Kapitalismus zu überwinden. Für gewöhnlich wird gesagt, daß die Arbeiter durch ihre 'ökonomische Macht' die Industrie kontrollieren, doch wir müssen feststellen, dass die Möglichkeit der Arbeitsniederlegung nicht gleichzusetzen ist mit einer Kontrolle der Industrie. So zeigt sich nur die Möglichkeit, durch die Arbeitsniederlegung die Industrie zu zerstören. Doch es ist ein Ding, etwas zu zerstören, und ein anderes Ding, etwas zu kontrollieren. Ein Streik der Arbeiter kann es den Kapitalisten unmöglich machen, Profit zu erzeugen, aber das gibt den Arbeitern nicht die Kontrolle über die Industrie. Es genügt nicht, dass die Arbeiter es den Kapitalisten unmöglich machen, zu herrschen; sie müssen die Gesellschaft übernehmen und selbst herrschen.

Die Kommunistische Partei Kanadas unterstützt die Kommunisten Europas vollkommen, und das nicht nur in Worten, denn wir sind entschlossen, dieselben Aktionen auch in Kanada durchzuführen. Die grundlegende Revolte der Arbeitermassen gegen die imperialistische Herrschaft wird auch auf diesem Kontinent bald kommen. Diese Herrschaft wird fallen, und dann werden einige 'Volksführer' der 'Arbeiterbewegung' gerufen werden, um – unterstützt durch moderate Sozialisten – den Kapitalismus zu retten. In diesem Augenblick müssen die Kommunisten in Aktion treten und den Kapitalismus zerstören und den Kommunismus errichten.

Dann wird der Augenblick gekommen sein, unser Programm, wie es hier formuliert ist, in der Praxis umsetzen:

  1. Der erste Akt in der Revolution des Proletariats wird die gewaltsame Beseitigung der Regierungsmacht und die Errichtung der Diktatur des Proletariats sein.
  2. Die vollständige Zerstörung aller kapitalistischen politischen Institutionen und ihre Ersetzung durch Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte mit Regierungsautorität.
  3. Die Abschaffung des stehenden Heeres, die Entwaffnung der Kapitalisten und ihrer Gefolgsleute (insbesondere der Polizeioffiziere und der Armeeoffiziere), und die Bewaffnung des kämpfenden Proletariats mit dem Ziel der Schaffung einer Roten Garde.
  4. Die Abschaffung aller Gerichte und ihre Ersetzung durch Revolutionstribunale.
  5. Die Beschlagnahme allen Privateigentums ohne offene oder versteckte Kompensation, einschließlich der Fabriken, Bergwerke, Mühlen, Eisenbahnen, und des Bodens, der sich im Eigentum von Individuen oder Körperschaften befindet und der Erzielung von Profit dient.
  6. Die Beschlagnahme aller Bankkonten (mit Ausnahme der kleinen Konten der Arbeiter) und Verstaatlichung des Bankensystems.
  7. Die Übergabe des Bodens an die Landarbeiter und armen Bauern.

Das sind die ersten Schritte, die wir tun müssen, um die Herrschaft des Proletariats zu errichten. Die Gesellschaft darf nur die Interessen der Arbeiter vertreten (das bedeutet Diktatur des Proletariats), bis die Bourgeoisie verschwunden ist und jedes Mitglied der Gesellschaft ein Arbeiter ist; dann wird die Diktatur des Proletariats überflüssig werden.

Zentrales Exekutivkomitee, Kommunistische Partei Kanadas

Quelle: Programme of the Communist Party of Canada (1919), in: Socialist History Project. Documenting the revolutionary socialist tradition in Canada, www.socialisthistory.ca/Docs/Underground/MayDay-CPC.htm (26. Oktober 2008), Übersetzung: Ronald Friedmann

Anmerkungen

(1) Der folgende Beitrag ist die bearbeitete Fassung eines Kapitels einer Arthur-Ewert-Biografie, die voraussichtlich 2011 in der Berliner edition ost erscheinen wird.
(2) Eine Ausreise über den Hamburger Hafen beispielsweise ließ sich für den Mai 1914 nicht nachweisen.
(3) Siehe Ottokar Luban: Führung des Rosa-Luxemburg-Karl-Liebknecht-Kreises in Berlin (Spartakusbund), 1915-1918. Biographien und soziale Zusammensetzung, in: Bruno Groppo/Berthold Unfried: Gesichter in der Menge. Kollektivbiographische Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Leipzig 2006, S. 121-131.
(4) Zit. nach: Ian Angus: Canadian Bolsheviks. The Early Years Of The Communist Party Of Canada, Montreal 1981, S.41.
(5) Siehe Annelies Laschitza: Die Liebknechts. Karl und Sophie – Politik und Familie, Berlin 2007, S. 173 bis 184.
(6) Strafakte Arthur Ewert: Bundesarchiv (Barch), R 3003, Strafsache Az 11 J 21/21, Bd. 1, S.26 (Rs).
(7) Weitere Einzelheiten über die Lebensumstände von Arthur Ewert und Elise Saborowski in Kanada bzw. den USA sind nicht überliefert. Katja Haferkorn berichtete in einem Aufsatz über Arthur Ewert, ohne jedoch eine Quelle zu nennen: "Im Mai 1914 wanderten Arthur und Sabo nach Kanada aus. Arthur übernahm dort jede Arbeit – u. a. als Dachdecker und als Sattler –, die er finden konnte. [...] Die wenige, ihm neben seiner beruflichen und politischen Tätigkeit verbleibende Zeit widmete er auch hier den Büchern, vor allem dem Studium des Marxismus." Katja Haferkorn: Arthur Ewert. Kämpfer für das deutsche und das brasilianische Volk, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 1968, H. 1, S.102-113, hier S.104.
(8) Brief von Elise Saborowski an Lucie Peters vom 11. Mai 1915, BArch, NY 4203/3, Bl. 86.
(9) Ebenda.
(10) Siehe Biographisches Handbuch zur Geschichte der Kommunistischen Internationale. Ein deutsch-russisches Forschungsprojekt, Berlin 2007, Datenbankeinträge auf beiliegender CD-ROM.
(11) Siehe William Beeching/Phyllis Clarke: Yours in the struggle. Reminiscences of Tim Buck, Toronto 1977, S.43f.
(12) Beide Parteien hatten jeweils etwa 3.000 Mitglieder.
(13) Siehe Canadian Bolsheviks, S.18-23.
(14) The Worker (Toronto), 3.4.1926, nach: Canadian Bolsheviks, S.24.
(15) Zit. nach ebenda, S.25.
(16) Zit. nach ebenda, S.38.
(17) Der Rote Stern (Berlin), 1924, Nr. 5, 5.8.1924.
(18) Siehe The Globe (Toronto), 7.4.1919, und The Toronto Times, 7.4.1919.
(19) Zit. nach: Angus, Canadian Bolsheviks, S.38.
(20) Herkunft und Zweck der Waffen liessen sich nicht ermitteln. Privater Waffenbesitz war jedoch in Kanada zu jener Zeit keineswegs ungewöhnlich.
(21) Ebenda, S. 38f.
(22) Siehe Programme of the Communist Party of Canada (1919), in: Socialist History Project. Documenting the revolutionary socialist tradition in Canada, www.socialisthistory.ca (26. Oktober 2008).
(23) Siehe dazu die Webseite der Communist Party of Canada (CPC) www.communist-party.ca (26. Oktober 2008).
(24) The Toronto Times, April 29, 1919.
(25) Siehe Angus, Canadian Bolsheviks, S.39f.
(26) Über den weiteren Lebensweg von Lieb Samsonovitch ist nichts bekannt.
(27) The Worker (Toronto), 30.5.1923.
(28) Wahrscheinlich von Arthur Ewert verfasst.

* JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung

Letzte Änderung: 2. Oktober 2011