Ausgewählte Artikel - 2011
900 Tage
Vor 70 Jahren begann die Blockade Leningrads durch die faschistische deutsche Wehrmacht
Bereits am 27. Juni 1941, nur fünf Tage nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, hatten in der Umgebung Leningrads, Wiege der Oktoberrevolution und zweitgrößte Stadt der Sowjetunion, die Vorbereitungen auf die Verteidigung der Stadt begonnen: Zehntausende Leningrader errichteten in wochenlanger Arbeit mehrere tief gestaffelte Verteidigungslinien mit Hunderten Kilometern Panzersperren, Drahtverhauen und Tausenden Kilometern Schützengräben. Doch alle Mühen schienen umsonst, die deutsche Wehrmacht marschierte scheinbar unaufhaltsam vorwärts. Am 4. September 1941 begann der Beschuss der Newastadt durch die deutsche Feldartillerie, und am 8. September 1941 schloss sich der Ring um Leningrad. Nördlich der Stadt standen finnische Truppen entlang der alten Staatsgrenze, wie sie bis zum finnisch-sowjetischen Krieg im Winter 1939/1940 existiert hatte. Im Westen war die Ostsee zum feindlichen Gewässer geworden. Und im Süden waren Truppen der deutschen Heeresgruppe Nord bereits bis in die Vororte der Newastadt vorgerückt. Nur im Osten gab es noch eine Verbindung zum Ladogasee, mit 18.000 Quadratkilometern fast ein kleines Binnenmeer. Erst in dieser Situation gelang es dem sowjetischen Oberkommando, die Front um Leningrad zu stabilisieren: Armeegeneral Georgi Shukow, der vom Moskauer Hauptquartier entsandt worden war, hatte die buchstäblich letzten sowjetischen Reserven in der Newastadt mobilisiert, um jenen schmalen Zugang zum Ladogasee zu verteidigen, der in den folgenden Wochen und Monaten die einzige Verbindung der Stadt mit dem sowjetischen Hinterland sein sollte.
Mit dem Beginn der Blockade kam der Hunger nach Leningrad. Bereits am 2. September 1941 waren die Lebensmittelrationen für die etwas mehr als drei Millionen Einwohner der Stadt erstmals gekürzt worden. Nachdem bei zielgerichteten deutschen Bombenangriffen große Teile der Leningrader Lebensmittelreserven vernichtet worden waren, mussten die Zuteilungen schrittweise weiter reduziert werden. Am 20. November 1941 gab es für Arbeiter nur noch 500 Gramm Brot, Angestellte und Kinder erhielten 300 Gramm und alle anderen Bewohner Leningrads 250 Gramm. Doch dieses Brot verdiente kaum seinen Namen, aus Mangel an Mehl bestand es vor allem aus Kleie und anderen Ersatzstoffen.
Die deutschen Truppen hatten ihre Kampfhandlungen inzwischen weitgehend eingestellt: Leningrad sollte nicht erobert, sondern ausgehungert werden. Die drei Millionen Einwohner, so war es in der Führung des Deutschen Reiches bereits vor dem Überfall auf die Sowjetunion beschlossen worden, sollten dem Hungertod ausgeliefert werden. In einer Aktennotiz vom 2. Mai 1941 über eine Besprechung von Regierungsvertretern und hohen Offizieren der Wehrmacht hatte es geheißen: »Der Krieg ist nur [...] zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht [...] aus Russland ernährt wird. [...] Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.«
Die wenigen verbliebenen Schiffe auf dem Ladogasee, zumeist Ausflugsdampfer, waren nicht geeignet, unter den Bedingungen der ständigen Luftangriffe der deutschen Luftwaffe die benötigten Lebensmittel in die Stadt zu bringen. So wartete man auf den Winter, auch wenn es in Leningrad kaum Brennstoffe gab und die Kälte die Wirkung des Hungers vervielfachen würde. Doch die Hoffnung bestand darin, über das meterdicke Eis des Ladogasees eine stabile Straße für LKW zu bauen, die mit Flak entlang der Route auch verteidigt werden konnte. So entstand die »Militärische Autostraße Nummer 101«, die berühmte »Straße des Lebens«, über die in den Wintern 1941/1942 und 1942/1943 viele Tausend Tonnen Lebensmittel in die Stadt gebracht werden konnten, auch wenn nicht einmal jeder dritte LKW sein Ziel erreichte. Etwa 550.000 Leningrader, in der Mehrzahl Kinder und Frauen, aber auch verwundete Soldaten, konnten über die Straße auf dem Eis evakuiert werden.
Trotzdem forderten Hunger und Kälte entsetzliche Opfer. Allein im ersten Winter verhungerten und erfroren in Leningrad etwa 400.000 Menschen, insgesamt starben in den Jahren der deutschen Blockade etwa 1,1 Millionen Menschen.
Scheinbar alles in der todgeweihten Stadt drehte sich um die Beschaffung von Lebensmitteln. Schon nach wenigen Wochen gab es in Leningrad weder Hunde noch Katzen, weder Ratten noch Krähen. Der Leim von den Tapeten wurde abgekratzt und gegessen, auf dem schwarzen Markt wurde zu horrenden Preisen die Erde verkauft, in die verbrannter Zucker gelaufen war, als im September 1941 die Lebensmittellager brannten.
Tote blieben tage- und wochenlang auf den Straßen und in den Wohnungen liegen, weil niemand mehr die Kraft aufbrachte, sie zu beerdigen ...
Und dennoch lebte die Stadt: Die großen Industriebetriebe produzierten trotz Energie- und Rohstoffmangel weiter für die Front. Die Universitäten und Hochschulen setzten ihre Arbeit fort, etwa 2.500 Studenten konnten in den Jahren der Blockade ihr Studium abschließen. Selbst an einigen allgemeinbildenden Schulen gab es regelmäßigen Unterricht. Und am 8. August 1942 wurde in der Newastadt die berühmte »Leningrader Sinfonie« aufgeführt, die der Komponist Dimitri Schostakowitsch im Winter 1941/1942 unter dem Eindruck der Blockade seiner Heimatstadt geschrieben hatte.
Mehrfach versuchte die deutsche Wehrmacht, den Ring um Leningrad enger zu ziehen, um die Verbindung über den Ladogasee abzuschnüren. Doch die Rote Armee konnte diese Angriffe immer wieder abwehren. Das Scheitern der deutschen Wehrmacht vor Moskau, vor allem aber die verheerende Niederlage in der Schlacht von Stalingrad, zwang die deutsche Führung, immer mehr Truppen von Leningrad abzuziehen. Bereits im Januar 1943 konnte die Rote Armee wieder eine Landverbindung nach Leningrad herstellen, auch wenn dieser Streifen noch immer in der Reichweite der deutschen Artillerie lag. Im Ergebnis der Leningrad-Nowgoroder Operation der Roten Armee wurde die Blockade am 12. Januar 1944 schließlich vollständig durchbrochen, die deutsche Wehrmacht wurde Hunderte Kilometer in Richtung Westen zurückgedrängt. Die 900 Tage der Blockade Leningrads waren endgültig vorüber.
Letzte Änderung: 3. Oktober 2011