junge Welt - 20. März 2010

Sharpeville

Vor fünfzig Jahren wurde ein Massaker der südafrikanischen Polizei zum Auslöser des bewaffneten Kampfes gegen die Apartheid

"Seit einem Jahrhundert ... müssen Schwarze in Südafrika einen Paß mit sich führen. Doch erst in den letzten Jahren ... wurde der Paß zu einer wirklichen Fessel. Der Paß listet den Namen, das Geburtsdatum und die Stammeszugehörigkeit des Schwarzen auf, er enthält ein Bild und eine Seriennummer. Es gibt Raum für eine Bestätigung, daß der Inhaber seine Steuern bezahlt hat, und es werden dessen Festnahmen und Verhaftungen aufgeführt. Falls der Arbeitgeber nicht jeden Monat den Paß abzeichnet, kann der Paßinhaber mit anderen Arbeitslosen zusammengetrieben und in eine Reservation für Eingeborene deportiert werden. Wenn ein Afrikaner vom Land in die Stadt fährt oder er nur die Straße überquert, um Zigaretten zu kaufen, kontrolliert die allgegenwärtige südafrikanische Polizei seinen Paß. Steht er vor der Tür seiner Hütte und hat er seinen Paß nicht dabei, wird ihm die Polizei nicht gestatten, die zwei Meter in die Hütte zu gehen und den Paß zu holen. Sie wird ihn ins Gefängnis bringen, ohne Nachricht an die Familie oder den Arbeitergeber, und er wird eine Geld- oder Haftstrafe erhalten. Mordfälle werden nicht verhandelt, weil die Gerichte mit Verfahren wegen Paßverstößen hoffnungslos überlastet sind.", schrieb das renommierte US-amerikanische Nachrichtenmagazin Time am 4. April 1960 in seinem Bericht über ein Ereignis, das knapp zwei Wochen zuvor ganz Südafrika erschüttert hatte und das weltweit für Schlagzeilen sorgte.

Im Dezember 1959 hatte der Afrikanische Nationalkongreß (ANC), die größte und einflußreichste Organisation des Widerstandes gegen die Politik der Apartheid in Südafrika, auf seiner Jahreskonferenz in Durban beschlossen, den Kampf gegen die Paßgesetze zum Gegenstand einer breiten Kampagne zu machen. Die Führung des ANC hatte erkannt, daß dieses Thema geeignet war, eine große Zahl von Menschen zu mobilisieren. Denn unabhängig von einem persönlichen politischen Engagement war buchstäblich jeder schwarze Bewohner Südafrikas von der Paßgesetzgebung unmittelbar betroffen. Die Kampagne sollte am 31. März 1960 beginnen und am 26. Juni 1960 mit einer demonstrativen Massenverbrennung von Pässen ihren Höhepunkt erreichen. Die folgenden Wochen standen ganz im Zeichen einer umfassenden Vorbereitung der Kampagne: Überall im Lande fanden Konferenzen statt, um sich mit möglichen Partnern zu verständigen, es wurden Meetings organisiert, und es wurden Plakate und Flugblätter in hoher Auflage gedruckt und verteilt.

Am 17. März 1960, zwei Wochen vor dem Start der Kampagne, wurde die Führung des ANC von einer Aufforderung des Panafrikanischen Kongresses (PAC) überrascht, sich am 21. März 1960 an dessen "spontanen" Protesten gegen die Paßgesetzgebung zu beteiligen. Der PAC, der sich im Jahr zuvor vom ANC abgespalten hatte, war zu jener Zeit eine Organisation, so berichtete Nelson Mandela später in seinen Lebenserinnerungen, die "lediglich eine Führung auf der Suche nach Anhängern" war. Es ging dem Panafrikanischen Kongreß nicht um wirksame Aktionen, nicht darum, den Gegner zu treffen. Er hatte lediglich das Ziel, den ANC auszustechen. Schon deshalb hatte es eine wirkliche Vorbereitung auf eine echte Kampagne seitens des PAC nicht gegeben. "Das war ein eklatanter Fall von Opportunismus", urteilte Nelson Mandela. Unter diesen Umständen mußte der ANC eine Zusammenarbeit ablehnen.

So blieb der Aufruf des PAC, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, ohne große Resonanz. In wichtigen Städten wie Durban, Port Elizabeth oder East London fanden überhaupt keine Aktionen statt. Doch in Sharpeville, einem kleinen Township etwa 50 Kilometer südlich von Johannesburg, wo örtliche Aktivisten des PAC mit viel Mut und großem persönlichem Einsatz ihre Anhänger mobilisierten, kam es zu einem folgenreichen Zwischenfall: Am frühen Nachmittag des 21. März 1960 zogen mehrere tausend Schwarzafrikaner vor die Polizeistation des Ortes, um sich - so die Grundidee des Protestes - wegen Verstoßes gegen die Paßgesetze festnehmen zu lassen. Die etwa 75 Angehörigen der Polizeistation gerieten in Panik, obwohl die Demonstranten friedlich und unbewaffnet waren und sich unter ihnen viele Frauen und Kinder befanden. Plötzlich eröffneten die Polizisten ohne Warnung das Feuer und töteten und verwundeten zahlreiche Menschen. Sie schossen auch weiter, als sich die Demonstranten in Angst und Schrecken bereits zur Flucht umgewandt hatten und das Gebiet um die Polizeistation in großer Hast und Eile verließen. Innerhalb weniger Minuten fielen mehr als 700 Schüsse. Zurück blieben 69 Tote und etwa 300 Verwundete, denen die Polizei über Stunden hinweg - bis in die Nacht hinein - die medizinische Versorgung verweigerte.

Die Nachricht von dem Massaker in Sharpeville verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land, am nächsten Tag beherrschten Berichte und Fotos von dem Blutbad die Titelseiten aller großen Zeitungen in Südafrika. Doch auch außerhalb des Landes sorgten die Berichte aus Sharpeville für Empörung und Proteste. Erstmals befaßte sich der UN-Sicherheitsrat in New York mit der Lage in Südafrika, in einer Resolution machte er die Regierung in Johannesburg für die Eskalation verantwortlich und forderte eine Beendigung der Politik der Rassentrennung.

Die Pläne des ANC für eine Kampagne gegen die Paßgesetze waren nun natürlich hinfällig, es mußte kurzfristig eine überzeugende Antwort auf das Massaker von Sharpeville gefunden werden: Am 26. März 1960 verbrannten Nelson Mandela und weitere Führungsmitglieder des ANC öffentlich ihre Pässe. Ihrem Aufruf, mit einem "Stay at home", einem "Fernbleiben von der Arbeit", ihren Zorn und ihre Kampfentschlossenheit zum Ausdruck zu bringen, folgten zwei Tage später hunderttausende Schwarzafrikaner. Am gleichen Tag fand in Kapstadt eine Protestkundgebung des ANC mit mehr als 50.000 Teilnehmern statt.

Die südafrikanische Regierung, die zu keiner Liberalisierung der Verhältnisse bereit war und in den Ereignissen von Sharpeville ausschließlich eine "kommunistische Provokation" sah, reagierte mit der Verhängung des Ausnahmezustandes. Am 8. April 1960 wurde der ANC auf der Grundlage des Ausnahmerechts als "gesetzwidrige Organisation" verboten und in den Untergrund getrieben. Wenige Monate darauf schuf sich der ANC seinen militärischen Flügel, den "Speer der Nation", dessen Führung Nelson Mandela übernahm. Der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika war in neue Etappe eingetreten.

Quellentext: Aus dem Bericht der südafrikanischen Kommission für Wahrheit und Versöhnung vom Oktober 1998

Die Kommission ist der Auffassung, daß die Polizei willkürlich das Feuer auf eine unbewaffnete Menge eröffnet hat, die sich am 21. März 1960 friedlich in Sharpeville zusammengefunden hatte, um gegen die Paßgesetze zu protestieren. Die Kommission ist außerdem der Auffassung, daß es die Polizei versäumt hat, der Menge eine klare Anweisung zur Auflösung zu geben, bevor sie mit dem Schießen begann, und daß die Polizei auch auf die bereits fliehende Menge schoß, was zur Folge hatte, daß hunderte Menschen in den Rücken getroffen wurden. Als Ergebnis der exzessiven Gewaltanwendung wurden 69 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt. Die Kommission stellt weiterhin fest, daß es die Polizei versäumt hat, unmittelbar nach dem Marsch den Menschen, die verwundet wurden, den Zugang zu medizinischer und anderer Hilfe zu ermöglichen. ...

Die Kommission stellt fest, daß die Mehrzahl der Teilnehmer des Marsches unpolitische und unbewaffnete Menschen waren, unter ihnen viele Frauen, die sich dem Marsch angeschlossen hatten, weil sie gegen die Paßgesetze waren. Die Kommission schätzt deshalb ein, daß sehr viele der Menschen, auf die geschossen wurde und die verletzt wurden, keine politisierten Mitglieder einer politischen Partei waren, sondern einfach nur Menschen, die nicht gezwungen werden wollten, ständig einen Paß bei sich zu führen. ...

Die Kommission stellt fest, daß die damalige Provinzregierung und der Polizeiminister für eine grobe Verletzung der Menschenrechte verantwortlich waren, denn es wurde exzessive Gewalt angewandt, um eine Zusammenkunft von unbewaffneten Menschen zu beenden. (africanhistory.about.com/library/bl/blTRCFindings-Sharpeville.htm)

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 25. April 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2010/sharpeville/