Disput - Mai 2009

Verfassungsdebatte Ost

Vor 60 Jahren beschloß der Dritte Deutsche Volkskongreß die Verfassung einer demokratischen deutschen Republik

Im Umfeld des 60. Jahrestages des (westdeutschen) Grundgesetzes wird von offizieller Seite gern die Tatsache unterschlagen, daß es zwischen 1946/1947 und 1949 auch im Osten Deutschlands eine ernstzunehmende Verfassungsdebatte gab, die am 30. Mai 1949, also eine Woche nach der Annahme und Verkündung des Grundgesetzes in den drei Westzonen, mit der Beschlußfassung über einen eigenen Verfassungstext ihren Abschluß fand.

Die Geschichte dieser ersten ostdeutschen Verfassung ist eng mit der Volkskongreßbewegung für Einheit und gerechten Frieden verbunden, die ihren Anfang im November 1947 genommen hatte. Ursprüngliches Ziel dieser Bewegung war es gewesen, eine repräsentative gesamtdeutsche Vertretung zu schaffen, die die deutschen Interessen bei der Londoner Konferenz der Außenminister der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges vertreten sollte. Die Initiative dazu ging - wohl wenig überraschend - von der SED aus. (Allein diese Tatsache genügt manchen Historikern, darunter nicht wenige, die sich selbst als "links" bezeichnen, der Bewegung insgesamt jede Legitimation abzusprechen.) Das Vorhaben scheiterte allerdings: Die britische Regierung verweigerte den deutschen Abgesandten die Einreise. Und bereits im Vorfeld hatten die Besatzungsbehörden in den Westzonen die Durchführung von Wahlen zum Deutschen Volkskongreß untersagt und jede Mitarbeit unter Strafe gestellt. Trotzdem war es den Initiatoren gelungen, im Dezember 1947 in Berlin fast 2000 Delegierte aus allen vier Besatzungszonen - gewählte Vertreter von Parteien und Massenorganisationen - zu versammeln.

Der Zweite Deutsche Volkskongreß tagte nur wenige Monate später: Im März 1948 ging es vor allem um das Verhältnis zum US-amerikanischen Marshallplan, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu Polen und um ein Volksbegehren zur deutschen Einheit, das schließlich vom 23. Mai bis 13. Juni 1948 nach den Grundsätzen der Weimarer Verfassung stattfand und das trotz massiver Behinderung im Westen das notwendige Quorum für die Durchführung eines Volksentscheides klar erreichte. Als Organ des Volkskongresses konstituierte sich der Deutsche Volksrat, der einen Ausschuß mit der Erarbeitung und Beratung eines gesamtdeutschen Verfassungsentwurfes beauftragte.

Im November 1948 wurde ein erster Entwurf zur öffentlichen Beratung vorlegt, in den folgenden Wochen gab es rund 15.000 Wortmeldungen, vor allem aus der Sowjetischen Besatzungszone, die sich auf insgesamt etwa 30 Themen bezogen. Doch angesichts der massiven Bestrebungen zur Schaffung eines westdeutschen Separatstaates - so die Bildung der Bizone im Januar 1947 und der Trizone im März 1948, die Währungsreform in Westdeutschland im Juni 1948 (mit Geldscheinen, die die Jahreszahl 1947 trugen) und schließlich die Einsetzung des Parlamentarischen Rates zur unmittelbaren Vorbereitung der Staatsgründung im September 1948 - blieb für eine wirklich umfassende und breite Diskussion kaum Zeit.

Am 15. und 16. Mai 1949 wurde der Dritte Deutsche Volkskongreß gewählt, die Stimmberechtigten hatten bei dieser Wahl allerdings nur noch die Möglichkeit, einer vorher festgelegten Einheitsliste zuzustimmen oder diese abzulehnen: "Ich bin für die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag. Ich stimme darum für die nachstehende Kandidatenliste zum Dritten Deutschen Volkskongreß." Zwei Wochen nach ihrer Wahl bestätigten die 2000 Delegierten - 1400 aus dem Osten, 600 aus dem Westen - den Verfassungstext, in dem es im Artikel 1 hieß: "Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik; sie baut sich auf den deutschen Ländern auf." Und weiter: "Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit."

Eine eigene Staatsgründung fand zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht statt, doch die Entwicklungen im Westen Deutschlands machten diesen Schritt schließlich unvermeidbar: Mit der Konstituierung des aus den Wahlen am 14. August 1949 hervorgegangenen Bundestages und der Wahl des Bundeskanzlers am 7. September 1949 war die Bildung des westdeutschen Separatstaates, der Bundesrepublik Deutschland, abgeschlossen, ganz nach der Devise Konrad Adenauers: Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb. Um kein staatsrechtliches Vakuum entstehen zu lassen, war nun auch im Osten Deutschlands die Schaffung eines eigenen Staates zwingend erforderlich geworden. Am 7. Oktober 1949 konstituierte sich der Zweite Deutsche Volksrat, vom Dritten Deutschen Volkskongreß gewählt, als Provisorische Volkskammer und setzte die am 30. Mai 1949 beschlossene Verfassung in Kraft. Damit war - im Nachgang zur Gründung der BRD - die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik vollzogen.

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 24. September 2023
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2009/verfassungsdebatte-ost/