Rundbrief* - Dezember 2009

Der Greif

Eine notwendige Ergänzung

Der von Günter Wehner in seinem Beitrag "Die Antifaschisten um Heinz Kapelle 1939" (Heft 2/09) erwähnte Chemiker Roßbaud, der tatsächlich Paul Rosbaud hieß, war mehr als nur ein Mann, der "aus seiner ablehnenden Haltung zum NS-Regime kein Hehl" machte.

Rosbaud war nach heutigem Erkenntnisstand der wahrscheinlich erfolgreichste westliche Spion, der gegen das Nazi-Regime arbeitete. Der Wert der Informationen, die er zwischen 1939 und 1945 an den britischen Geheimdienst lieferte, stellt ihn in eine Reihe mit den Mitgliedern der Roten Kapelle, die, wie Rosbaud, in Europa kämpften, oder Richard Sorge, der im Fernen Osten seine Aufgabe erfüllte.

Paul Rosbaud wurde 1896 im österreichischen Graz geboren. Von 1915 bis 1918 nahm er als einfacher Soldat in der k.u.k.-Armee am Ersten Weltkrieg teil. In britischer Kriegsgefangenschaft, so eine der Legenden über sein Leben, entstand seine Sympathie und Zuneigung zu Großbritannien. Rosbaud studierte ab 1920 in Darmstadt Chemie und promovierte 1928 an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg.

Im Rahmen seiner redaktionellen Tätigkeit für große Wissenschaftsverlage, ab 1933 für den Springer Verlag, suchte und unterhielt er in ganz Europa enge, zum Teil sogar private Kontakte zu herausragenden Naturwissenschaftlern, mit denen er die Veröffentlichung hochkarätiger wissenschaftlicher Publikationen realisierte. Diese Kontakte waren seine wichtigste Informationsquelle, als er für den britischen Geheimdienst arbeitete.

Im Januar 1939 gelang es ihm, im Physikmagazin "Naturwissenschaften" äußerst kurzfristig einen Bericht Otto Hahns unterzubringen, der buchstäblich nur Tage zuvor, unter wesentlicher Mitwirkung von Lise Meitner, die Kernspaltung entdeckt hatte. Rosbaud, der eine militärische Nutzung der Atomkraft bereits zu diesem frühen Zeitpunkt für möglich hielt, wollte erreichen, daß die internationale Wissenschaftsgemeinschaft Kenntnis von der sensationellen Entdeckung erhielt, bevor die deutschen Behörden Geheimhaltung anordnen konnten.

In den Folgejahren lieferte Rosbaud dem britischen Geheimdienst, der ihm den Decknamen "Griffin", also "Greif", gegeben hatte, Informationen über das deutsche Raketenprogramm in Peenemünde sowie über die ernsthaften, aber vergeblichen Bemühungen deutscher Wissenschaftler, eine Atombombe zu entwickeln und zu bauen.

Rosbaud starb 1963 in London. Die britische Regierung verweigert bis heute die Freigabe von Akten, die seine geheimdienstliche Tätigkeit betreffen. Cherie Blair, die Frau des früheren britischen Premiers Tony Blair, hat als Anwältin im Auftrag der Familie bisher vergeblich gegen den britischen Geheimdienst M-6 prozessiert. Dieser vertritt die Auffassung, daß die Kläger, also die Freunde und die Angehörigen von Paul Rosbaud, nachweisen müssten, daß eine Veröffentlichung der Akten im britischen Interesse liegt.

(Eine 1986 unter dem Titel "The Griffin. The Greatest Untold Espionage Story of World War II" erschienene Paul-Rosbaud-Biographie des britischen Physikers Arnold Kramish, der von 1943 bis 1945 Teilnehmer des US-amerikanischen Manhattan-Projekts zum Bau einer Atombombe war, ist zwar recht unterhaltsam und informativ geschrieben, genügt aber keinesfalls wissenschaftlichen Ansprüchen.)

* Rundbrief 3-4/2009 der AG Rechtsextremismus / Antifaschismus der Partei DIE LINKE.

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 19. April 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2009/der-greif/