EinesTages - 14. August 2009

Das Rätsel des Eisenbahn-Bombers

Mitten auf der Strecke explodierten seine Sprengsätze: Ein Bahn-Attentäter versetzte Anfang der dreißiger Jahre Reisende in Deutschland, Österreich und Ungarn in Angst und Schrecken. Dutzende Menschen starben. 1932 wurde der Täter verhaftet und verurteilt - zwölf Jahre später verschwand er unter mysteriösen Umständen.

In den späten Abendstunden des 8. August 1931, etwa gegen 22 Uhr, riss eine Sprengstoffexplosion in der Nähe der brandenburgischen Kleinstadt Jüterbog ein fast dreieinhalb Meter langes Stück Gleis aus der stark befahrenen Eisenbahnstrecke südlich Berlins. Der Schnellzug D 43, unterwegs von der Reichshauptstadt in das schweizerische Basel, entgleiste. Die Lok sowie acht Wagen kippten die Böschung hinunter. Mehr als 100 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, doch wie durch ein Wunder gab es keine Toten zu beklagen.

Für die Sonntagszeitungen kam die Nachricht von dem Sprengstoffanschlag bei Jüterbog zu spät. Am Montag dann bestimmten zwei andere Themen die Schlagzeilen: Der vor allem vom rechtsextremen Stahlhelm und von der NSDAP getragene und von der Kommunistischen Partei unterstützte Volksentscheid zur vorzeitigen Auflösung des preußischen Landestages, der sich ausdrücklich gegen die Regierung des Sozialdemokraten Otto Braun richtete, war gescheitert. Und im östlichen Zentrum Berlins, vor dem Kino "Babylon" auf dem Bülowplatz, nur wenige Schritte vom Karl-Liebknecht-Haus, der KPD-Parteizentrale entfernt, waren zwei Polizeioffiziere erschossen worden. Zuvor war die Polizei im Verlaufe des Wahltages mit noch größerer Brutalität als sonst immer wieder gegen friedliche Versammlungen auf dem Bülowplatz vorgegangen, wo KPD-Mitglieder und Sympathisanten auf die Veröffentlichung des Abstimmungsergebnisses warteten.

Die Ereignisse auf dem Bülowplatz, vor allem aber die Tatsache, dass in der Nähe des Anschlagsortes bei Jüterbog neben Drahtenden und Zündschnüren auch Reste der Nazi-Zeitung "Der Angriff" gefunden wurden, über und über mit Hakenkreuzen und mit handschriftlichen Parolen wie "Attentat - Revolution - Sieg" beschmiert, führten umgehend zu der Vermutung, dass auch die Urheber des Zugattentats in KPD-Kreisen zu suchen seien. 25 Parteimitglieder wurden verhaftet, doch nach mehrstündigen Verhören mussten zunächst 21 von ihnen freigelassen werden, weil es nicht den geringsten Hinweis auf eine Täterschaft gab. Kurz darauf wurden auch die verbliebenen vier wieder auf freien Fuß gesetzt.

Noch ein Verbrechen

Trotz aufwendiger Ermittlungen und einer für damalige Verhältnisse sensationell hohen Belohnung von 100.000 Reichsmark für Hinweise, die zur Ergreifung und Verurteilung der Täter führten, kamen die Behörden keinen Schritt voran. Erst ein weiteres Verbrechen brachte den entscheidenden Hinweis, und es wurde sehr schnell klar, dass der Anschlag von Jüterbog nicht der erste Versuch des Täters gewesen war, eine Eisenbahnkatastrophe herbeizuführen.

Am 13. September 1931 explodierte auf der etwa 25 Meter hohen Eisenbahnbrücke bei Biatorbágy nahe Budapest genau in dem Augenblick eine Sprengstoffladung, als der Schnellzug von Budapest nach Wien die Brücke mit hoher Geschwindigkeit passierte. Die Lok, der Gepäck- und der Schlafwagen sowie drei Personenwagen stürzten in die Tiefe. 24 Menschen starben, es gab 14 Schwer- und viele Leichtverletzte.

Während der Befragung der Überlebenden in Budapest fiel der ungarischen Polizei ein etwa 40 Jahre alter Mann auf, der sehr bereitwillig Auskunft gab, vor allem aber ein großer Wichtigtuer zu sein schien.

Ein gesprächiger Wichtigtuer

Die Verletzung an der Stirn, auf die er immer wieder hinwies, schien nichts mit dem Sprengstoffanschlag zu tun zu haben, sondern sah eher so aus, als habe sie sich der Mann selbst beigebracht. Doch mehr als ein ungutes Gefühl hatten die ungarischen Beamten nicht vorzuweisen, und so gestatteten sie Sylvester Matuska, das war der Name des verdächtigen Zeugen, die Rückreise nach Wien, wo er mit Frau und Kind lebte. Doch dem Verdacht folgten Ermittlungen in Budapest, Wien und Berlin, und am 7. Oktober 1931 stand fest: Sylvester Matuska hatte nicht nur den Zug bei Biatorbágy in die Luft gesprengt, er war auch für das vergleichsweise glimpflich verlaufene Attentat bei Jüterbog und für zwei gescheiterte Anschläge am 31. Dezember 1930 und 31. Januar 1931 gegen die Westbahn bei Neulengbach und Maria Anzbach in Österreich verantwortlich.

Am 6. Oktober 1931 wurde Matuska in Wien verhaftet. Nach anfänglichem Leugnen legte er sehr bald ein umfassendes Geständnis ab. Doch seine Motive sind bis heute unklar.

In der Kriminalliteratur wird darüber gestritten, ob Matuska möglicherweise geisteskrank war oder sexuell pervers oder ob er vielleicht doch politische Gründe hatte.

Der Gewürzhändler aus der Vojvodina

Matuska wurde am 24. Januar 1892 in Cantavir in der Vojvodina im damaligen Österreich-Ungarn geboren. Während des Ersten Weltkriegs war er Offizier des K.u.k.-Heeres. Nach Kriegsende arbeitete er zunächst als Lehrer in seiner Heimatstadt, dann versuchte er sich als Gewürzhändler, Immobilienspekulant und Lebensmittelgroßhändler. Keines seiner vielen Unternehmen war erfolgreich, und am 30. September 1930 musste er den Offenbarungseid leisten.

Ein Schwurgericht in Wien verurteilte Matuska am 17. Juni 1932 wegen der beiden Anschläge in Österreich zu sechs Jahren schweren Kerkers. 1936 wurde er an Ungarn ausgeliefert, wo er wegen des Anschlags auf den Schnellzug Budapest-Wien zum Tode verurteilt wurde. Doch bei der Auslieferung war vereinbart worden, dass ein mögliches Todesurteil in lebenslängliche Haft umzuwandeln sei. So blieb Sylvester Matuska der Galgen erspart. Zum Kriegsende 1944/1945 verlor sich seine Spur, seriöse Hinweise auf sein weiteres Schicksal gibt es nicht.

1982 wurde die Geschichte des Eisenbahnattentäters Matuska in einer Koproduktion Ungarn/Deutschland/USA unter dem Titel "Viadukt" (auch: "The Train Killer") verfilmt, mit Armin Müller-Stahl in einer Nebenrolle. Das ZDF strahlte den Streifen im Juli 1983 unter dem Titel "Der Fall Sylvester Matuska" aus.

Noch immer kursieren Berichte, denen zufolge Matuska Anfang der fünfziger Jahre im Koreakrieg auf Seiten der Kommunisten gesehen wurde. Doch einen Beweis dafür gibt es nicht. Es ist auch eher unwahrscheinlich: Hätten die Kommunisten tatsächlich Spezialisten für Eisenbahnattentate gebraucht, wie es hieß, dann wären sie in jener Zeit wohl leichter in der Sowjetunion fündig geworden - dort hatten belorussische Partisanen im sogenannten Schienenkrieg zwischen 1941 und 1945 Tausende Versorgungszüge der deutschen Wehrmacht angegriffen und zerstört und damit wesentlich zum Sieg der sowjetischen Truppen über die deutschen Okkupanten beigetragen.

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 18. April 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2009/das-raetsel-des-eisenbahn-bombers/