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Ausgewählte Artikel - 2009
Disput - Februar 2009

Das "ND"

Im Verlag "Das Neue Berlin" ist eine Geschichte des "Neuen Deutschland" erschienen

Im Grunde haben Zeitungen keine wirklich eigene Geschichte. Das "Neue Deutschland" macht da keine Ausnahme, auch wenn die Autoren Burghard Ciesla und Dirk Külow ihrem Buch "Zwischen den Zeilen" den Untertitel "Geschichte der Zeitung 'Neues Deutschland'" gegeben haben. Letztlich liefern die Autoren selbst den Beweis für diese These, denn buchstäblich jede Seite ihres Buches macht deutlich, dass die "Geschichte der Zeitung 'Neues Deutschland'" bis in das Jahr 1990 hinein eigentlich nur eine mehr oder weniger gebrochene Widerspiegelung der Geschichte der SED und der DDR war. Was immer in der Zeitung in jenen Jahren zu lesen war, was immer in den Redaktionsstuben geschah: Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen wurden alle wesentlichen Entscheidungen dazu andernorts - zumeist im Politbüro oder im Sekretariat des Zentralkomitees der SED - getroffen. Dem ND blieb die Aufgabe, die Vorgaben der "Partei- und Staatsführung" in das Zeitungsformat zu übersetzen, "kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator" zu sein, wie es Lenin einst in einem ganz anderen Sinne formuliert hatte. Auch dass es dabei in journalistischer Hinsicht Höhen und Tiefen gab, über die die Autoren sehr ausführlich und lesenswert berichten, war weniger den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ND als vielmehr den politischen Verhältnissen in der DDR geschuldet. Sie ließen zeitweise größere oder kleinere Spielräume, legten aber, und das insbesondere seit 1971, dem Jahr des Machtantritts von Erich Honecker, den Macherinnen und Machern der Zeitung immer engere Fesseln an. Dass Chefredakteure wie Hermann Axen, Joachim Herrmann oder Günter Schabowski selbst in der engsten Führung der SED saßen, steht dazu keineswegs im Widerspruch.

Den Autoren ist es nicht wirklich gelungen, den sich aus dieser Verquickung ergebenden methodischen Konflikt zu lösen. Bei den Berichten über Ereignisse der Zeitgeschichte verlieren sie sich immer wieder in der Schilderung von Details, die mit dem ND nichts oder nur wenig zu tun haben, so bei der viel zu ausführlichen Darstellung der Vorgänge in der engeren DDR-Führung unmittelbar vor dem 13. August 1961. Bei anderen Fragen beschränken sie sich auf die Wiedergabe von Klischees, die offensichtlich dem Zeitgeist geschuldet sind, obwohl ein etwas gründlicherer Blick in das ND eine ganz andere Wahrheit ans Licht gebracht hätte: Walter Ulbricht reduzierte seine Kritik an Stalin im Jahre 1956 eben nicht darauf, ihn nicht mehr zu den "Klassikern des Marxismus-Leninismus" zu zählen, wie die Autoren das in ihrer Darstellung der - weitgehend aus dem Stegreif gehaltenen - Rede Ulbrichts vor dem Berliner Parteiaktiv am 3. März 1956 glauben machen wollen. Bei zahlreichen anderen Gelegenheiten griff Ulbricht das Thema und seine eigenen Darlegungen an diesem 3. März 1956 kritisch und selbstkritisch auf, nachzulesen beispielsweise im ND vom 1. August 1956. Das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 wird ausschließlich als das "Kahlschlagplenum" geschildert, das es in kulturpolitischer Hinsicht auch war. Dass es aber als solches nicht konzipiert gewesen war, sondern erst durch die persönliche "Initiative" Honeckers dazu gemacht wurde, der im "Bericht des Politibüros" seine eigenen kulturpolitischen Attacken ritt, bleibt ungesagt.

Auch in anderer Hinsicht hat das Buch Schwächen, was sich vor allem an Themen zeigen lässt, die von den Autoren nicht oder nur am Rande behandelt wurden. Ein Beispiel dafür ist der damals viel und sehr kontrovers diskutierte Artikel "Über die Russen und über uns" von Rudolf Herrnstadt, zu jener Zeit noch Chefredakteur der "Berliner Zeitung", der am 19. November 1948 im ND erschien. Oder die im Mai 1953 vom damaligen Kulturredakteur des ND, Wilhelm Girnus, losgetretene Diskussion um das von Hanns Eisler verfasste Textbuch einer deutschen Nationaloper "Johann Faustus", mit dem, so Girnus, Eisler dem "deutschen Nationalgefühl ins Gesicht geschlagen" habe. Es entwickelte sich daraus eine der erbittertsten kulturpolitischen Debatten in der Geschichte der DDR. Doch auch dieses Ereignis findet bei Ciesla und Külow nicht statt, was schon deswegen zu bemängeln ist, weil diese Diskussion tatsächlich im ND ihren Ausgangspunkt hatte, und ausnahmsweise nicht im "Großen Haus", dem Sitz des ZK.

Über weite Strecken ist das Buch auch und vor allem eine Betriebsgeschichte von Redaktion, Verlag und Druckerei des ND, die in dieser Form eigentlich nur für (ehemalige) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Angehörige interessant ist. Denn für wen ist es beispielsweise wirklich wichtig zu wissen, dass es im Frühjahr 1956, zum zehnten Jahrestag der Zeitung, wegen der inzwischen deutlich gestiegenen Größe der Belegschaft notwendig war, zwei Betriebsfeiern durchzuführen, weil es in Berlin zu jener Zeit keine ausreichend großen Räume für nur eine Feier gab?

Äußerst informativ hingegen sind die Schilderungen zu den technologischen Prozessen, insbesondere in der Drucktechnik. Es wird noch einmal deutlich, dass die DDR in diesem Bereich an der Weltspitze mitspielte und dass schon deswegen - aus Sicht der Treuhandanstalt und ihrer Auftraggeber - die polygraphische Industrie der DDR nach 1990 zerstört werden musste.

Bedauerlicherweise widmen die Autoren den Ereignissen nach 1990 nur wenige Seiten. Ausführlich werden zwar die Machenschaften der Treuhandanstalt und der dem Bundesinnenministerium unterstellten sogenannten Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR gegen das "Neue Deutschland" dargestellt. Doch wichtige Entwicklungen, die das Selbstverständnis der Zeitung und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betrafen und betreffen, werden bestenfalls erwähnt. Für den Leser wäre es jedoch durchaus interessant zu erfahren, welche unmittelbaren und längerfristigen Wirkungen beispielsweise die Berufung des "Wessis" Jürgen Reents als Chefredakteur hatte und hat. Doch hier ist der zeitliche und sonstige Abstand der Autoren zu den Akteuren und den Ereignissen und Entwicklungen wahrscheinlich einfach zu knapp.

Nicht nur in dieser Frage, und das sei die versöhnliche Bilanz, bleibt künftigen Historikern und Politikwissenschaftlern also noch genug zu tun, wenn es um die "Geschichte der Zeitung 'Neues Deutschland'" geht.

Und noch eines: Spannend von der ersten bis zur letzten Seite sind die zahlreichen Abbildungen - Fotos, Karikaturen und vor allem Faksimiles von Schlagzeilen -, die das Buch eigentlich zu einer "Illustrierten Geschichte des ND" machen.

Burghard Ciesla und Dirk Külow: Zwischen den Zeilen: Geschichte der Zeitung "Neues Deutschland". Das Neue Berlin, 256 Seiten, 24,90 Euro

Letzte Änderung: 2. Oktober 2011