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Ausgewählte Artikel - 2008
Neues Deutschland - 28. Mai 2008

Wahlen 1928

Kalenderblatt

Am 20. Mai 1928 soll ein neuer Reichstag gewählt werden. »Arbeiter, Arbeiterinnen! Werktätige in Stadt und Land! Häufig seid ihr seit 1918 zu Wahlen gerufen worden. Die bürgerlichen und die sozialdemokratischen Parteien versprechen euch alles, um eure Stimme zu erhalten. Aber hat man euch nicht alle Errungenschaften der Revolution geraubt? Die Teuerung ist gestiegen, Antreiberei größer geworden. Niedrige Löhne, lange Arbeitszeit und Auswucherung durch Steuerdruck sind das Los der Arbeiter, Angestellten und Bauern. Die Trusts, die Banken und Junker aber machen Milliarden-Profite. Imperialismus und Militarismus triumphieren wieder.« Arthur Ewert, Mitglied des Politbüros der KPD und Kandidat im Wahlkreis 3 (Potsdam II), spricht mit kräftiger Stimme zu den Wählerinnen und Wählern, die sich im Hinterzimmer einer kleinen Gastwirtschaft versammelt haben. »Vor dem gesamten werktätigen Volk steht die Schicksalsfrage: Mit der Bourgeoisie und ihren Helfern, den sozialdemokratischen Führern den Weg der Knechtschaft, oder mit der Kommunistischen Partei den Weg des entschlossenen Kampfes zur Errichtung des Sozialismus.«

Der leichte ostpreußische Akzent verrät die Herkunft des Redners, der selbst gar nicht anwesend ist. Auf einem Tisch steht ein Grammophon. Ewerts Stimme kommt von einer Schallplatte, die sich mit 78 Umdrehungen pro Minute dreht und eine Spieldauer von knapp vier Minuten hat. Es war wahrscheinlich eine Idee von Willi Münzenberg, Schallplatten mit Reden der wichtigsten Kandidaten der KPD zu produzieren und im Reichstagswahlkampf einzusetzen. Seit 1924 baute er einen »roten Medienkonzern« auf, der nicht nur klassische Druckerzeugnisse, sondern auch Filme und Schallplatten produzierte. Heutzutage setzt man auf sogenannte Podcasts, kurze Politikerstatements zu aktuellen Fragen, die als kleine Audio-Dateien über das Internet verbreitet werden. Was Münzenberg produzieren ließ, waren Podcasts auf Schelllack.

Die KPD gewann übrigens 1928 bemerkenswerte 3,3 Millionen Stimmen (10,6 Prozent). Zu ihren 54 Abgeordneten, die in den Reichstag einzogen, gehörte Arthur Ewert.

Letzte Änderung: 2. Oktober 2011