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Vorträge
Vortrag - 29. März 2008

Gerhart Eisler als Agent in China: Vorbild für Die Maßnahme?

Vortrag bei den Hanns-Eisler-Tagen 2008 in der Berliner Volksbühne

Gerhart Eisler, der Bruder von Hanns Eisler, wurde im Januar 1929 offiziell Mitarbeiter des sogenannten Fernöstlichen Büros der Kommunistischen Internationale in Moskau. Er hatte nur wenige Wochen Zeit, um sich auf einen Einsatz als Vertreter der Komintern bei der Kommunistischen Partei Chinas in Shanghai vorzubereiten: Bereits Ende Februar oder Anfang März 1929 traf er - gemeinsam mit seiner zweiten Frau Ella - nach einer mehrwöchigen Reise in China ein, wo er bis zum Januar 1931 blieb.

Zuvor hatte Gerhart Eisler bis zum Oktober 1928 der unmittelbaren Führung der Kommunistischen Partei Deutschlands angehört. Die Funktion, die er dabei offiziell innehatte - seit dem Essener Parteitag im Februar 1927 war er Kandidat des Zentralkomitees -, entsprach in keiner Weise der tatsächlichen Rolle, die er spielte.

Allerdings waren Gerhart Eisler und die übrigen, fälschlicherweise bis heute als Versöhnler bezeichneten Angehörigen einer auf Realpolitik orientierten Fraktion innerhalb der KPD in einem parteiinternen Machtkampf mit dem KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann im September 1928 - Stichwort: Wittorf-Affäre - auf Grund einer massiven persönlichen Intervention Stalins unterlegen. Und Stalin war es auch, der bereits Anfang Oktober 1928 die Entfernung von Gerhart Eisler aus der Arbeit der KPD verfügt hatte. Es war also reiner Zufall, daß es Gerhart Eisler nach China verschlug - nach Stalins Willen ging es nur darum, eine Verwendung für Gerhart Eisler zu finden, die ihm, egal wo, eine weitere - direkte oder indirekte - Einflußnahme auf die Geschicke der Kommunistischen Partei Deutschlands unmöglich machen sollte.

Der Einsatz von Gerhart Eisler in China war in mehrfacher Hinsicht brisant: Zum einen war es die allgemeine Sicherheitslage in dem von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Unruhen erschütterten Land. Die chinesischen Behörden gingen mit ungeheurer Brutalität und Grausamkeit gegen jede Form des Widerstandes oder auch nur des Protestes vor und konnten sich dabei beispielsweise der Unterstützung der vorwiegend britischen Polizeibehörden im International Settlement von Shanghai sicher sein, einem vor allem Ausländern vorbehaltenen Siedlungsgebiet mit eigener Jurisdiktion, in dem auch Gerhart Eisler wohnte. In einem Interview Mitte der sechziger Jahre beschrieb Gerhart Eisler die Lage so: "Die Situation war damals außerordentlich kompliziert. Den chinesischen Patrioten drohte, wenn sie verhaftet wurden, die Enthauptung oder schwerste Folter. Man kann sagen, daß ein schrecklicher weißer Terror in allen größeren Städten herrschte. Die Gefahr hing über uns in jedem Augenblick. Schon weil es vollkommen ungewöhnlich war, daß ein Europäer einen Chinesen außerhalb eines Geschäfts traf. ... Einer meiner Genossen starb an den Folgen der Mißhandlungen in einem chinesischen Gefängnis. ..."(1)

Zum anderen war die China-Politik der Komintern spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre zu einem wesentlichen Faktor des Machtkampfes innerhalb der sowjetischen Führung geworden: Im Gefolge des 8. Plenums des Exekutivkomitees der Komintern, das vom 8. bis zum 30. Mai 1927 tagte und das sich ausführlich mit der Lage in China und den daraus folgenden Aufgaben der Kommunistischen Partei Chinas befaßt hatte, war es Stalin gelungen, den entscheidenden Schlag gegen seinen ärgsten Rivalen, Trotzki, zu führen: Im November 1927 wurde Trotzki aus der KPdSU ausgeschlossen, zwei Jahre später wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen.

Dabei hatte gerade dieses Plenum des Exekutivkomitees der Komintern eine Änderung des politischen Kurses der Kommunistischen Partei Chinas beschlossen, die innerhalb kurzer Zeit zu fatalen Ergebnissen führte: Die Führung der überwiegend kleinbürgerlichen Kuomintang, die die politisch maßgebliche Kraft einer auf die nationale Befreiung orientierten revolutionären Bewegung in China war, kündigte im Juli 1927 nicht nur de facto das seit 1924 bestehende, stets sehr fragile Bündnis mit der Kommunistischen Partei Chinas auf, das zur gemeinsamen Regierung von Wuhan geführt hatte, sondern errichtete in Nanking eine Gegenregierung, die mit blutigem Terror, der Zehntausende Opfer forderte, gegen die kommunistische Bewegung vorging. Die langjährige Zusammenarbeit der Kuomintang mit der Sowjetunion, die zahlreiche Berater offiziell in das Land geschickt hatte, wurde beendet. Die überlebenden chinesischen kommunistischen Kräfte mußten innerhalb kürzester Zeit ihre Positionen in den Städten aufgeben und sich auf das Land zurückziehen, wo in der Folge kleinere und größere sogenannte Sowjetgebiete entstanden, die jedoch über lange Zeit ohne wirklichen Einfluß auf die Geschicke des Landes blieben.

Eine nicht unwesentliche Rolle hatte dabei der deutsche Kommunist Heinz Neumann gespielt, der von Juli bis Dezember 1927 Vertreter der Komintern bei der KP Chinas gewesen war und der gemeinsam mit seinem sowjetischen Freund und Genossen Besso Lominadse von Stalin persönlich den Auftrag erhalten hatte, in Kanton einen bewaffneten Aufstand zu organisieren. Der Aufstand am 11. Dezember 1927 scheiterte, schätzungsweise 25.000 chinesische Kommunisten wurden getötet, und Neumann und Lominadse konnten selbst nur mit knapper Not dem Gegenterror entkommen.

Auch wenn der Kantoner Aufstand nach heutigem Kenntnisstand nicht Ergebnis einer revolutionären oder auch nur vorrevolutionären Lage in China war, sondern von Stalin für den Machtkampf in der Sowjetunion gebraucht wurde, so wurden die Berichte über die Ereignisse in China in der linken Öffentlichkeit in Europa mit großer Sympathie aufgenommen, zumal dort die maßgebliche Mitwirkung von Emissären der Komintern nicht bekannt war. Das Verständnis leitete sich wohl aus dem her, was man in der "Maßnahme" im Abschnitt "Verrat" finden kann, wo es heißt: "... denn der Mensch, der lebendige, brüllt, und sein Elend zerreißt alle Dämme der Lehre. Darum mache ich jetzt die Aktion, jetzt und sofort."(2)

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß Gerhart Eisler und Heinz Neumann, gemeinsam mit anderen im April 1923, auf dem Höhepunkt eines innerparteilichen Konfliktes zwischen rechten und ultralinken Kräften in der KPD, die sogenannte Mittelgruppe gebildet hatten, die auf eine Verständigung zwischen den widerstreitenden Strömungen und auf eine an den Erfordernissen der Zeit orientierte Politik der KPD zielte. Zwar entfremdeten sich Gerhart Eisler und Heinz Neumann politisch sehr schnell wieder, denn der instinktsichere Neumann verstand es sehr gut, sich bei parteiinternen Auseinandersetzungen rechtzeitig auf die Seite des späteren Siegers zu schlagen. Doch kann mit großer Sicherheit davon ausgegangen werden, daß ein persönlicher, ja zeitweise sogar freundschaftlicher Kontakt fortbestand. So ist es vorstellbar, daß Gerhart Eisler nach der Rückkehr von Neumann aus China wesentlich mehr über die Vorgänge in Kanton als andere Funktionäre erfuhr. Und auch Hanns Eisler könnte davon profitiert haben.

Zurück zu Gerhart Eisler: Die erste ausführliche Information, die er aus Shanghai nach Moskau sandte, war ein mehrseitiger Brief vom 31. März 1929. Roberts, wie sich Gerhart Eisler aus konspirativen Gründen in der Korrespondenz mit der Zentrale der Komintern nannte und wie er in Schreiben von Dritten in dieser Zeit genannt wurde, berichtete bereits erstaunlich detailliert über die "gegenwärtige Lage in China", wie er sie unmittelbar nach seiner Ankunft am neuen Einsatzort vorgefunden hatte: "China steht wieder vor Ausbruch des inneren Krieges. ... Der neue Krieg ist der Ausdruck der Tatsache, daß kein Problem der chinesischen Revolution gelöst ist. Weder die Befreiung vom ausländischen Imperialismus ... Weder die Agrarrevolution ... So blieb als Resultat die formale Einheit Chinas ..., die nur ein Deckmantel für die faktische Zerrissenheit, eine Pause im aktuellen Krieg infolge der Erschöpfung der Kräfte der Militaristen und infolge der Gefahr des Sieges der revolutionären Demokratie war. ... Nach Schilderung der Genossen vom Politbüro gibt es in der Partei folgende Stimmungen: Viele Genossen meinen, es gebe keine Möglichkeit, für die Revolution zu arbeiten. Pessimismus, Skepsis, Ängstlichkeit, mit einem Wort: große Passivität. Ferner sei bei einigen Genossen die Meinung vorhanden, dieser Krieg sei ein Krieg zwischen der Demokratie und Feudalismus, und man müsse daher trotz allem die Nanking-Regierung unterstützen. Es gebe zwar nicht viele solche Genossen, aber immerhin sei diese höchst gefährliche Auffassung bei einigen Genossen vorhanden. Ferner gibt es noch einige Reste putschistischer Stimmungen, die der Auffassung sind, mit dem Krieg breche automatisch die Revolution aus, man brauche nichts tun, als sich militärisch vorbereiten. Ich habe bei Abgang dieses Briefes noch kein klares Bild über die Stärke der verschiedenen falschen Auffassungen, in welchen Organisationen, in welchen Parteikörpern, bei welchen wichtigen Funktionären. Die Schwierigkeiten des Verkehrs und der Sprache ermöglichen ein nur sehr langsames Arbeiten. ..."(3)

Der letzte Satz machte, gewollt oder ungewollt, das ganz Dilemma der Arbeit des Büros der Komintern in Shanghai deutlich: Mit einer Ausnahme hatte kein einziger Mitarbeiter vor seinem Einsatz in irgend einer Form mit China zu tun gehabt, kein einziger Mitarbeiter hatte das Land zuvor besucht, kein einziger Mitarbeiter hatte je einen der führenden chinesischen Kommunisten persönlich kennengelernt.

Mehr noch: Seitens der Führung der Kommunistischen Partei Chinas gab es nunmehr als Folge der Erfahrungen der vorangegangenen Jahre eine sehr starke Skepsis und Ablehnung gegenüber allen Emissären mit Moskauer Auftrag. Auf Grund der Sprachprobleme war es für die Mitarbeiter des Komintern-Büros in Shanghai faktisch unmöglich, interne Informationen, beispielsweise über Meinungen und Stimmungen innerhalb der engeren Parteiführung, zu erhalten.

Im Falle von Gerhart Eisler wurde die Lage zusätzlich durch den Umstand kompliziert, daß die Führung der KP Chinas im Sommer 1929 auf eigenen, von der Komintern unabhängigen Wegen erfahren hatte, welche Umstände zur Entsendung von Gerhart Eisler nach China geführt hatten, daß es sich für ihn also im Grunde um eine Art Strafexpedition handelte. Gerhart Eisler mußte deshalb in den verbleibenden knapp zwei Jahren seines China-Aufenthaltes viel Zeit und Kraft investieren, um zumindest ein normales Arbeitsverhältnis zu den Mitgliedern der chinesischen Parteiführung aufzubauen.

Zu den Themen, mit denen Gerhart Eisler sich in China befaßte, gehörte beispielsweise der Aufbau eigenständiger, also kommunistischer Gewerkschaften, wie er zu dieser Zeit von der Komintern von allen Kommunistischen Parteien, unabhängig von der konkreten politischen Lage in den verschiedenen Ländern, gefordert wurde. Und er war schon sehr frühzeitig in die internen Auseinandersetzungen der KP Chinas involviert, bei denen es um die Frage ging, welche Kraft - das Proletariat in den Städten oder die kleinen Bauern auf dem Land - die tragende Rolle bei einer künftigen Revolution in China spielen würde.

Viel Energie verwandte Gerhart Eisler auch darauf, die verdeckte Finanzierung einer englischsprachigen Zeitschrift über das revolutionäre China durch die Komintern in Moskau sicherzustellen. Herausgeberin und wichtigste Autorin dieser Zeitschrift war die linke US-amerikanische Journalistin Agnes Smedley, die lange Jahre in China lebte.

Zeitweise war Gerhart Eisler als amtierender Leiter des Komintern-Büros in China auch mit der Koordinierung der Zusammenarbeit zwischen der der Führung der chinesischen Roten Armee und einer Gruppe von sowjetischen Militärberatern befaßt. Insgesamt war die Tätigkeit von Gerhart Eisler in China dennoch keineswegs so spektakulär, wie das über viele Jahre hinweg gemutmaßt wurde, zumal bekannt war, daß Gerhart Eisler in China u.a. auch Kontakt zu Richard Sorge, dem legendären sowjetischen Spion, der 1944 in Japan ermordet wurde, hatte.

Inzwischen sind die Geschehnisse jener Zeit - zumindest für Historiker - weitgehend aufgeklärt: Seit etwa zehn Jahren gibt es eine viele zehntausend Seiten umfassende und gut kommentierte Quellenedition mit dem Titel "KPdSU(B), Komintern und die Sowjetbewegung in China", die sich vor allem auf die Dokumente aus dem Moskauer Komintern-Archiv stützt, in der sich aber auch Dokumente aus anderen Archiven finden. Die bisher vorliegenden Teile umfassen den Zeitraum von 1920 bis 1937, also explizit auch die beiden Jahre, in denen Gerhart Eisler an maßgeblicher Stelle im Fernöstlichen Büro der Komintern in Shanghai arbeitete. Zwar sind einige wenige Dokumente ganz offensichtlich für immer verloren, so zum Beispiel auch das Telegramm aus Shanghai nach Moskau von Ende Januar oder Anfang Februar 1931, in dem mitgeteilt wurde, warum Gerhart Eisler Anfang Januar 1931 China beinahe fluchtartig hatte verlassen müssen. Doch insgesamt gibt die Quellenedition einen nahezu lückenlosen Überblick über die Entwicklung des Verhältnisses von KPdSU, Komintern und KP Chinas und über Konflikte, Diskussionen und Ereignisse, die dieses Verhältnis bestimmten. Um es kurz zu sagen: Es gibt in dieser Quellenedition nicht den geringsten Hinweis darauf, daß Gerhart Eisler bei einem Ereignis eine Rolle spielte, das als Vorbild für die "Maßnahme" hätte gelten können.

Und weiter: Zwar hatte Ruth Fischer, die Schwester von Gerhart und Hanns Eisler, Gerhart Eisler bei mehr als einer Gelegenheit auch öffentlich als "Liquidator chinesischer ... Genossen"(4) bezeichnet und in diesem Sinne beispielsweise im Februar 1947 auch Aussagen vor dem Washingtoner "Komitee für Unamerikanisches Verhalten" gemacht. Doch auch die US-Behörden - und insbesondere das FBI -, die zu dieser Zeit eine massive Kampagne gegen Gerhart Eisler führten, der in der US-amerikanischen Öffentlichkeit als "Boss aller Roten" diskreditiert und letztlich zu einer möglichst hohen Haftstrafe verurteilt werden sollte, waren trotz der mit großem Aufwand betriebenen Ermittlungen nicht in der Lage, auch nur einen Hinweis darauf zu finden, daß die Vorwürfe Ruth Fischers gegen ihren Bruder gerechtfertigt gewesen wären.

Die Tatsachen sind aus meiner Sicht eindeutig: Ein Vorbild für die "Maßnahme" war Gerhart Eisler nicht, und konnte es auf Grund der Art seiner Tätigkeit in China auch nicht sein. Die Tatsache, daß sein Bruder in China lebte und arbeitete, hat dieses Land für Hanns Eisler sicher besonders interessant gemacht. Aber in der "Maßnahme" steht nichts, was sich so nicht auch in einem anderen Land hätte ereignen können.

Anmerkungen

(1) So zitiert in: Nicole Chatel et Alain Guerin, Camarade Sorge, Paris 1965, S. 49 f.
(2) Bertolt Brecht, Die Maßnahme, in: Frühe Stücke, Stuttgart und Hamburg o. J., S. 409.
(3) KPdSU (B), Komintern und Sowjetbewegung in China. Dokumente. Band 3: 1927-1931, Münster 2000, Teil 1, S. 682 ff.
(4) Fischer, Ruth, und Arkadij Maslow, Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils, München 1990, S. 160 f.

Letzte Änderung: 16. Dezember 2020