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Ausgewählte Artikel - 2008
Disput - August 2008

Die Geschichte kennt kein Pardon

Zu Kurt Pätzolds »Erinnerungen eines deutschen Historikers«

Es gibt nur wenige Bücher, von denen man wirklich sagen kann, dass sie fehlen würden, wenn es sie nicht gäbe. Die Erinnerungen des international renommierten Historikers und Faschismusforschers Kurt Pätzold, die weit mehr als eine gewöhnliche Autobiografie sind, gehören unbedingt dazu.

Pätzold selbst weist darauf hin, dass dieses »Buch in eigener Sache« auch mit einer »aktuell-politischen Absicht« geschrieben wurde: »Andere Vorhaben zurückstellend - vielleicht auf sie ganz verzichtend, das muss sich noch erweisen«, so der inzwischen 78-Jährige, »wurde ich zu diesem Text auch bestimmt durch die alltägliche Wahrnehmung, dass von den Zeiten, in denen sich mein Leben vollzog, Zerr- und Horrorbilder verbreitet werden. Deren Autoren ist das letzte Wort nicht zuzugestehen. So ist das Buch auch eine Gegenschrift, in dem jedoch keine alte Rechnung zu begleichen war.« (S. 312)

Zunächst aber ist das Buch der - zwangsläufig und gewollt - subjektive Bericht über ein langes und ereignisreiches Leben als Wissenschaftler, das 1930 in Breslau in einer linkssozialdemokratischen Familie begann. Der einfühlsam ausgeübte Einfluss der Eltern trug wesentlich dazu bei, dass der in den Jahren der Naziherrschaft Heranwachsende der allgegenwärtigen braunen Propaganda nicht erlag. Über die ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs kann Pätzold deshalb berichten: »Da war mir von meinen Eltern schon verdeutlicht worden, dass dies nicht unser Krieg, nicht unsere Siege, nicht unsere Fahnen waren. Nicht, dass Vater und Mutter mir gleichsam auf einem Stühlchen ihre Sicht vermittelt hätten. Sie setzten darauf, dass die Atmosphäre in der Familie für sich spräche.« (S. 16)

Erstaunlich dann die Erlebnisse des inzwischen knapp 15-Jährigen, der Anfang 1945 von den Eltern vor der herannahenden Front von Breslau in Richtung Westen geschickt wurde: Mit Zwischenstationen in Görlitz und Staßfurt erreichte Pätzold auf abenteuerliche Weise im Sommer 1945 das thüringische Weimar. Und noch im Herbst des selben Jahres wurde er Schüler der gerade wiedereröffneten Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Es folgten in den 50er Jahren Studium und wissenschaftliche sowie (zeitweise hauptberufliche) politische Arbeit an der Universität in Jena. Pätzold promovierte 1963 und habilitierte sich 1973 an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er bis 1992 Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Geschichte war.

Bei seiner Darstellung von 40 Jahren gesellschaftswissenschaftlicher Forschungspolitik und Forschungspraxis in der DDR - und das macht das Buch besonders interessant und lesenswert - wird sichtbar, dass Pätzold eben nicht nur Zeitzeuge, sondern auch und vor allem engagierter Akteur war. Er berichtet also kenntnis- und detailreich über Erfolge und Niederlagen, über vernünftiges und falsches politisches Handeln, dabei gemachte eigene Fehler, über die Möglichkeiten und Grenzen des Tuns und Lassens, stets verbunden mit einer aufschlussreichen Schilderung der konkreten Zeitumstände.

Von besonderem Interesse sind dabei die Darlegungen Pätzolds zu den Fortschritten und Defiziten bei der Entwicklung eines wissenschaftlich handhabbaren Faschismus-Begriffes in der DDR-Geschichtswissenschaft, die in dieser - wie in zahllosen anderen Fragen - in höchstem Maße von den Wünschen, Erwartungen und Vorgaben der politischen, also der Parteiführung abhängig war. Die fälschlicherweise Georgi Dimitroff zugeschriebene Faschismusdefinition der Kommunistischen Internationale aus dem Jahre 1933 blieb - trotz ihrer mit der Zeit offensichtlich werdenden Schwächen - über Jahrzehnte hinweg sakrosankt: »Was an der Faschismus-Definition des Jahres 1933 zu bemängeln ist, trifft nicht deren unbekannt gebliebene Autoren, sondern die Faschismusforscher in der DDR. Wir haben uns gegen diejenigen nicht durchgesetzt, die den Grundsatz verfochten, das Erbe nicht anzurühren, und fürchteten, jede Erweiterung oder Korrektur könne es nur beschädigen. Doch die Zeitbedingtheit der Hinterlassenschaft war offenkundig.« (S. 173)

Bemerkenswert auch Pätzolds wissenschaftlich begründete Bedenken gegen den Begriff »Holocaust«, den er ablehnt, weil ein »massenmörderischer Irrationalismus« (S. 199) keine hinreichende Erklärung für Ursachen und Motive eines weltgeschichtlich einzigartigen Verbrechens sein kann. Und weiter: »Natürlich besteht keine berechtigte Hoffnung, dass die Begrenztheit der historisch-idealistischen Sicht auf den "Holocaust" aufgegeben werden könnte. Für die Marginalisierung materialistischer Positionen ist inzwischen in Deutschland gesorgt. So wird nicht nur der Blick auf den Zusammenhang zwischen Imperialismus und äußerster Aufgipfelung von Menschenfeindlichkeit in der Vergangenheit verstellt. Bedient werden damit auch zeitgenössische Rechtfertigungen von Expansionspraktiken. Auch sie setzen an die Stelle realer Antriebe ebenso vorgetäuschte, ideologische und politische, andere als die Nazifaschisten, aber doch wie diese solche, die von den wirklich verfolgten Interessen und Zielen weglenken. Nicht nach Erdöl wird gestrebt, sondern Demokratie exportiert.« (S. 202 f.)

Nicht ohne Bitternis berichtet Pätzold abschließend über die »Abwicklung« der DDR-Geschichtswissenschaft nach 1990, auch hier, wie mit dem sprichwörtlichen Seziermesser, die objektiven Gründe und subjektiven Motive des handelnden Personals analysierend.

Eine abschließende Bemerkung: Eine bibliografische Übersicht aller Veröffentlichungen Kurt Pätzolds hätte ohne Frage den Rahmen dieses Buches gesprengt. Doch eine Übersicht mit einer vom Autor selbst vorgenommenen Auswahl seiner wichtigsten Arbeiten wäre eine sinnvolle Ergänzung gewesen.

Kurt Pätzold: Die Geschichte kennt kein Pardon. Erinnerungen eines deutschen Historikers. Edition Ost. Berlin 2008. 320 Seiten. 14,90 Euro.

Letzte Änderung: 2. Oktober 2011