Ausgewählte Artikel - 2008
Das Ende des "Prager Frühling"
Historischer Rückblick
Eigentlich war und ist der "Prager Frühling" ein traditionelles Kultur- und Musikfestival, das seit 1946 alljährlich am 12. Mai, dem Todestag des berühmten tschechischen Komponisten Bedrich Smetana, beginnt und mehrere Wochen dauert. Doch seit 1968 - seit nunmehr vierzig Jahren - verbindet sich mit diesem Begriff eine politische und wirtschaftliche Entwicklung in der damaligen CSSR, die je nach Standpunkt des Betrachters als Versuch gilt, auf einem "dritten Weg" einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen, bzw. die sozialistischen Errungenschaften in der CSSR zu zerstören und das Land auf den kapitalistischen Entwicklungsweg zurückzuwerfen.
Seinen Anfang hatte der "Prager Frühling" bereits 1963 genommen, als zunächst in Wissenschaftlerkreisen begonnen wurde, über alternative Politik- und Wirtschaftsmodelle nachzudenken. Auch innerhalb der Führung der KPC setzte ein Differenzierungsprozeß ein, der schließlich im Januar 1968 mit der Ablösung des vormaligen Parteichefs Antonín Novotný durch Alexander Dubcek einen ersten Höhepunkt erlebte. Am 5. April 1968 legte die KPC ein Aktionsprogramm vor, das die Grundlage des in den Wochen und Monaten zuvor eingeleiteten Reformkurses darstellte. In diesem Aktionsprogramm wurde der Sozialismus nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, den Kräften um Alexander Dubcek ging es darum, den Sozialismus attraktiver und lebenswerter zu machen. Doch selbst innerhalb der KPC gab es Kräfte, die das Ziel dieses Reformprogramms ablehnten. Ota Sik zum Beispiel, der bei der Formulierung der wirtschaftspolitischen Ziele des "Prager Frühlings" eine maßgebliche Rolle spielte, erklärte zwanzig Jahre nach den Ereignissen von 1968, daß er einer "sozialistischen Marktwirtschaft" keine Chance gegeben habe und bereits damals eine Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen für unvermeidlich und deshalb erstrebenswert gehalten habe.
In Moskau und den Hauptstädten der anderen sozialistischen Länder sah man die Ereignisse in der CSSR mit großer Skepsis und Ablehnung, zumal diese Ereignisse eine Eigendynamik entwickeln, die sie mehr und mehr der Kontrolle durch die Führung der KPC entzogen. Bereits im März 1968 gab es in Dresden eine Art Krisentreffen, Anfang August 1968 schließlich fand in Bratislava eine letzte Zusammenkunft von fünf Staats- und Parteichefs sozialistischer Länder mit der Führung der KPC statt. Diese Treffen hatten nur ein Ziel - die Führung der KPC zur Umkehr und zur Rücknahme der eingeleiteten Reformen zu bewegen. Eine militärische Lösung, so beweisen neueste Forschungen, wollte die Führung der KPdSU jedoch unbedingt vermeiden. Noch Stunden vor dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die CSSR telefonierte KPdSU-Chef Leonid Breshnew mit Alexander Dubcek, um doch noch eine Alternative zu finden. Vergeblich, wie die weiteren Ereignisse zeigten.
Am 21. August 1968 marschierten sowjetische Truppen in der CSSR ein. In den folgenden Wochen und Monaten erfolgte ein umfassender Personalwechsel in der Führung der KPC - Gustav Husak löste Alexander Dubcek ab, der für mehr als zwanzig Jahre in der politischen Bedeutungslosigkeit versank. Vor allem jedoch wurden die eingeleiteten Reformen zurückgenommen und die CSSR wieder auf einen streng moskautreuen Kurs gebracht.
Der Protest des Westens war lautstark, aber wenig energisch. Vermutlich hatte man in Washington, London, Paris und anderswo verstanden, daß die sowjetische Führung unter den konkreten Umständen der Zeit kaum anders handeln konnte. Mehr noch, nach zwanzig Jahren Kalten Krieges in Europa und der Welt, der mehr als einmal kurz davor stand, zum Heißen Krieg zu eskalieren, hatte in Europa ein vorsichtiger Prozeß der politischen Verständigung zwischen Ost und West begonnen, der 1975 seinen Höhepunkt mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in der finnischen Hauptstadt Helsinki erfuhr. Diesen Prozeß wollte man auch im Westen nicht gefährden.
Doch unabhängig von der Reaktion des Westens hätten in den Partei- und Staatsführungen der Sowjetunion und ihrer Bündnispartner alle Alarmglocken schlagen müssen: Das Beispiel der CSSR hätte zu der Erkenntnis führen müssen, daß sich das sozialistische Entwicklungsmodell, für das sich später der Begriff vom "real existierenden Sozialismus" durchsetzte, bereits in einer tiefen und - wie sich zwanzig Jahre später zeigen sollte - existentiellen Krise befand. Ob der "dritte Weg" von Alexander Dubcek eine Alternative gewesen wäre, bleibt jedoch historische Spekulation.
Letzte Änderung: 2. Oktober 2011