Neues Deutschland - 28. Juli 2007

Vom Zitieren

Kronzeuge Churchill

Immer wieder zitieren Politiker, Historiker und Journalisten historische Persönlichkeiten, um die Richtigkeit eigener Thesen zu beweisen oder um den eigenen Aussagen ein größeres Gewicht zu verleihen. Gelegentlich wird dann auch ein Zitat aus dem Zusammenhang gerissen und so die eigentliche Aussage in ihr Gegenteil verkehrt. Oder man nimmt sich bei der Übersetzung aus einer fremden Sprache eine gewisse Freiheit.

Winston Churchill z. B. wird immer dann, wenn es um den Marshall-Plan geht, gern mit den Worten zitiert, dieser sei "the most unsordid act in the history of nation" gewesen. Vor zweieinhalb Jahren behauptete der damalige Bundesaußenminister Josef Fischer also, Churchill habe den Marshallplan als eine der "großmütigsten Taten der Geschichte" bezeichnet.

Vor wenigen Wochen, aus Anlass des 60. Jahrestages des Marshallplans, kam die US-Botschafterin in Österreich, Susan McCaw, der geschichtlichen Wahrheit schon näher, denn sie zitierte Churchill deutlich anders: "die am wenigsten schmutzige Tat in der Geschichte".

Der Witz an der Sache: Sowohl Fischer als auch McCaw, wie zahllose andere Redner vor ihnen, darunter auch Bill Clinton, beriefen sich auf Churchill, obwohl sich dieser niemals in der behaupteten Art und Weise über den Marshall-Plan geäußert hat. Zwar stammt die eingangs erwähnte Formulierung tatsächlich von Churchill, aber sie bezog sich auf das Leih- und Pachtgesetz von 1941, auf dessen Grundlage die USA den Alliierten, zuerst Großbritannien, Waffen und Ausrüstung lieferten. Dieses nennt er in seinem großen Werk "Der Zweite Weltkrieg" "die uneigennützigste Tat in der Geschichte aller Nationen".

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 20. April 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2007/vom-zitieren/