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Ausgewählte Artikel - 2007
Disput - Mai 2007

Salut für Sonja

Vor hundert Jahren wurde Ruth Werner geboren

Als meine Tochter Pionier wurde, das war im Dezember 1985, schenkte ihr ihre Oma ein Buch, in dem eine Karte lag: "Dieses Buch hat eine Frau geschrieben, die heute selbst Oma und Uroma ist und die von unendlich vielen Menschen bewundert wird, weil sie sich ihr ganzes Leben bemühte, für andere Gutes zu tun, Krieg und Not zu verhindern. Deshalb merke Dir ihren Namen gut." Das Buch war "Die gepanzerte Doris", die Autorin hieß Ruth Werner.

Ruth Werner hatte seit Anfang der fünfziger Jahre zahlreiche Bücher für Kinder und Erwachsene geschrieben, darunter bereits 1959 die Erzählung "Ein ungewöhnliches Mädchen", in der sie in verfremdeter Form auch Teile ihrer eigenen Biographie verarbeitete, ohne daß das allerdings in der Öffentlichkeit so verstanden wurde. Wirklich bekannt, ja berühmt wurde sie daher erst 1977, als "Sonjas Rapport" erschien, ihr inzwischen in viele Sprachen übersetzter Lebensbericht über ihre jahrzehntelange Arbeit für den sowjetischen militärischen Geheimdienst.

Ruth Werner wurde am 15. Mai 1907 als eines von sechs Kindern in der Familie des international renommierten Ökonomen und Statistikers Robert René Kuczynski und seiner Frau Berta geboren. Zu den Geschwistern gehörte auch Jürgen Kuczynski, der später einer der bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler der DDR werden sollte und der sich selbst als "linientreuen Dissidenten" und "fröhlichen Marxisten" sah.

Politik, Kultur und das Bemühen um umfassende Bildung gehörten zum Alltag der Familie Kuczynski. So war es für Ruth Werner, die damals noch Ursula Kuczynski hieß, selbstverständlich, einen Beruf zu lernen. Sie wurde Buchhändlerin. Doch bereits ihre erste Arbeitsstelle verlor sie wieder, als in dem Berliner Verlagshaus, in dem sie arbeitete, bekannt wurde, dass sie - gerade 19 Jahre alt - Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands geworden war.

1930, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, ging sie mit ihrem ersten Ehemann, einem arbeitsuchenden Architekten, nach China. In der kleinbürgerlich geprägten europäischen Kolonie in Shanghai fühlte sie sich allerdings zunächst sehr einsam und nutzlos. Doch sie hatte das Glück, Agnes Smedley zu treffen, eine US-amerikanische Journalistin, die ein für eine Frau ihrer Zeit sehr unabhängiges Leben führte und die nie aus ihrer linken Gesinnung einen Hehl machte. Sehr schnell verband die beiden Frauen eine enge Freundschaft. Durch Agnes Smedley lernte Ruth Werner auch Richard Sorge kennen, den deutschen Kommunisten und legendären sowjetischen Spion, dem es im Frühsommer 1941 in Japan gelang, das Datum des bevorstehenden deutschen Angriffs auf die Sowjetunion zu erfahren und nach Moskau zu übermitteln. Seine Informationen im Herbst 1941, wenige Tage vor seiner Verhaftung, erlaubten es der sowjetischen Führung, kampfstarke Truppen aus dem Fernen Osten abzuziehen und vor Moskau gegen die faschistische deutsche Wehrmacht einzusetzen, die die sowjetische Hauptstadt unmittelbar bedrohte.

Richard Sorge war es auch, der Ruth Werner für die Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Geheimdienst gewann. In China tobte zu jener Zeit ein heftiger Bürgerkrieg, der von einem fürchterlichen weißen Terror begleitet war. In ihrem "Rapport" berichtete Ruth Werner viele Jahre später: "Ich besinne mich, dass Richard mir vorschlug, ich solle einer Demonstration in der Hauptstraße beiwohnen, ohne direkt daran teilzunehmen. Mit Einkäufen beladen, um als Europäerin ein Alibi für meine Anwesenheit zu haben, stand ich vor dem großen Warenhaus Wing-On und sah zu, wie Chinesen geschlagen und verhaftet wurden. Die Festnahme bedeutete in vielen Fällen das Ende. Ich sah in die Gesichter junger Menschen, deren Todesurteil soeben gesprochen worden war, und wußte, daß ich schon um ihretwillen jede Arbeit, die man von mir verlangte, leisten würde."

Für Richard Sorge arbeitete sie zunächst als Kurier, sie stellte ihre Wohnung für geheime Treffen zur Verfügung, und sie bewahrte Waffen und Material auf.

Ende 1935 verließ sie China endgültig und ging mit ihren zwei Kindern - sie hatte sich inzwischen von ihrem ersten Ehemann getrennt - im Auftrag des sowjetischen Geheimdienstes zunächst nach Polen und dann in die Schweiz. Dort lernte sie auch ihren späteren zweiten Ehemann, den Spanienkämpfer Len Beurton, kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod 1997 verheiratet war. 1940 kam sie schließlich nach Großbritannien, wo bereits ihre Eltern und ihr Bruder im Exil lebten. Und hier wurde auch ihr drittes Kind geboren.

In Großbritannien erfüllte Ruth Werner ihre wohl wichtigste geheimdienstliche Aufgabe: Sie baute ein eigenes Netz auf, das der Sowjetunion kriegswichtige Informationen beschaffte. Vor allem aber arbeitete sie als Kurier für Klaus Fuchs, eine Tatsache, die sie in der 1977 in der DDR veröffentlichten ersten Fassung ihres "Rapports" nicht erwähnen durfte und die erst nach 1989 in der Öffentlichkeit bekannt wurde.

Klaus Fuchs, ein junger deutscher Kommunist und hochbegabter Physiker, war als politischer Flüchtling aus Hitlerdeutschland in das gerade begonnene britische Atombombenprojekt einbezogen worden. Er hatte sofort verstanden, welch teuflische Waffe im Entstehen war, und er hatte sich entschlossen, sein Wissen darüber der Sowjetunion zu Verfügung zu stellen.

Ruth Werner und Klaus Fuchs trafen sich fast zwei Jahre lang regelmäßig in der Nähe des kleinen Ortes Banbury, zwischen Oxford und Birmingham gelegen. Keiner kannte die Wohnung des anderen, Klaus Fuchs wusste nicht einmal den Namen der jungen Frau, der er geheimstes Material zur Weitergabe anvertraute. Ruth Werner erinnerte sich: "Als ich Klaus zum ersten Mal traf, gingen wir nach dem altbewährten Liebespaarprinzip Arm in Arm spazieren und sprachen miteinander, auch über Dinge, die den Inhalt unseres Zusammenseins nicht betrafen. Es war angenehm, sich mit einem so feinsinnigen, klugen Genossen und Wissenschaftler zu unterhalten."

1943 endete der Kontakt, Klaus Fuchs ging in die USA, um dort am Manhattan-Projekt zum Bau einer US-amerikanischen Atombombe mitzuarbeiten. Auch in den USA gab er seine Informationen an den sowjetischen Geheimdienst weiter und ermöglichte es so, dass die Sowjetunion bereits im August 1949 das US-amerikanische Atombombenmonopol brechen konnte. Die Enttarnung und Verhaftung von Klaus Fuchs Anfang 1950 gaben Ruth Werner den letzten Anstoß, Großbritannien zu verlassen und in die eben gegründete DDR überzusiedeln, auch wenn sie sicher sein konnte, dass Klaus Fuchs sie nicht verraten würde.

Hochdekoriert und geehrt - so war ihr beispielsweise bereits 1937 der erste Rotbannerorden verliehen worden, und sie hatte als erste Frau überhaupt den Dienstgrad eines Oberst der Sowjetarmee erhalten -, beendete sie nun auch die Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Geheimdienst. Sie arbeitete von nun an im Amt für Information der DDR-Regierung, doch wurde diese Einrichtung sehr schnell zur Zielscheibe innerparteilicher Maßregelungen, denn viele der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten die Jahre des Faschismus im westlichen Exil verbracht und galten daher parteioffiziell grundsätzlich als verdächtig. Sie hatte jedoch Glück, wie sie in ihrem "Rapport" später berichtete - Leiter des Amtes war Gerhart Eisler, den sie bereits seit den zwanziger Jahren kannte.

Allerdings: "1953 wechselte das Amt Namen, Aufgaben und Leitung. Mein Kontakt zur neuen Leitung war weniger gut. Als ich einmal vergaß, den Panzerschrank abzuschließen - er enthielt kein vertrauliches Material -, wurde mir eine Parteistrafe wegen 'ungenügender Wachsamkeit' erteilt, und man legte mir nahe zu kündigen. Ich erhielt eine schlechte Beurteilung, Mir wurden neben anderem 'kleinbürgerliche Tendenzen' vorgeworfen. Es gelang mir nicht, dies als 'Ironie des Schicksals' abzutun, ich wurde nicht damit fertig. Ich begann bei der Kammer für Außenhandel zu arbeiten."

Und weiter: "1956 gab ich die feste Arbeit auf, um mein erstes Buch zu schreiben. Seitdem habe ich ununterbrochen literarisch gearbeitet. ... Es ist großartig, noch im Alter einen Beruf zu haben, der so viel fordert. Vielleicht trägt die Freude daran mit dazu bei, daß ich nicht von der Vergangenheit zehre, sondern intensiv mit dem Heute beschäftigt bin."

1991 erschien in Großbritannien - in englischer Sprache, die Übersetzung hatte eine ihrer Schwestern angefertigt, die noch immer in London lebte - die vollständige Fassung von "Sonjas Rapport". Der Bericht enthielt nun nicht nur die zuvor unveröffentlichten Teile über die Kontakte von Ruth Werner mit Klaus Fuchs, sondern vor allem auch einen kritischen und selbstkritischen Blick auf die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, die in ihr große Bitterkeit, aber keine Resignation hervorriefen. Ihren "Rapport", ihre Lebensbilanz, beendete sie nun mit den Zeilen: "Viele gute Männer und Frauen leben jetzt in tiefer Enttäuschung, wandten sich von allem ab, an das sie glaubten. Ich kann das nicht. Vielleicht durchlebe ich jetzt die schwierigste Zeit meines Lebens, aber ich glaube, dass Marx, Rosa Luxemburg und Lenin große Revolutionäre waren. Für zukünftige Generationen will ich immer noch soziale Gerechtigkeit, Zugang für jeden zu einer guten Bildung, und vor allem will ich, dass nirgendwo jemand hungert und dass Frieden ist auf der Welt. So tief wie immer verachte und hasse ich die Arroganz der Reichen, die Macht des Geldes. Ich hasse Rassismus und Faschismus."

Als Ruth Werner am 7. Juli 2000 im Alter von 93 Jahren starb, begleiteten sie Hunderte Menschen auf ihrem letzten Weg, unter ihnen - sehr zum Unwillen der heutzutage und hierzulande Herrschenden und Regierenden - auch hochrangige Vertreter der russischen Botschaft.

Und noch heute gedenken ihrer zahllose Menschen in aller Welt voller Respekt, Dankbarkeit und auch Liebe.

(Alle wörtlichen Zitate sind entnommen: Ruth Werner, Sonjas Rapport. Erste vollständige Ausgabe, Berlin 2006)

Letzte Änderung: 1. Mai 2017