junge Welt - 18. August 2007

Perfider Justizmord

Vor achtzig Jahren wurden in den USA Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti im Staatsgefängnis von Charleston, Massachusetts, auf dem elektrischen Stuhl getötet

Ferdinando »Nicola« Sacco und Bartolomeo Vanzetti, damals 17 und 20 Jahre alt, kamen im Jahre 1908, unabhängig voneinander, aus ihrer italienischen Heimat in die USA, um im vorgeblichen »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« eine neue Lebensperspektive zu finden. Erstmals trafen sich die beiden im Mai 1917 als Mitglieder der besonders in Kreisen der italienischen Einwanderer beheimateten anarchistischen Bewegung um Luigi Galleani. Wie den Briefen zu entnehmen ist, die die beiden später während der jahrelangen Haft gelegentlich austauschten, verband sie zwar in der Folge keine tiefe freundschaftliche Beziehung, aber doch eine enge und aufrichtige Kameradschaft.

Insbesondere Sacco war bereits in sehr jungen Jahren, noch in Italien, mit sozialistischem Gedankengut in Berührung gekommen. 1916 wurde er erstmals verhaftet und zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er bei einer nicht genehmigten anarchistischen Kundgebung als Redner aufgetreten war. Über seinen Weg in die anarchistische Bewegung schrieb Vanzetti viele Jahre später im Gefängnis: »Ich sah die ganze Grausamkeit des Lebens, all die Ungerechtigkeit und die Korruption, mit der sich die Menschheit auf so tragische Weise herumschlägt. (...) Ich suchte meine Freiheit in der Freiheit aller, mein Glück im Glück aller.«

Dürftige Indizien

Die Monate und Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren auch für die USA, die im April 1917 in den Krieg in Europa eingetreten waren, eine Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs und der Krise der sozialen Ordnung: Massenarbeitslosigkeit verband sich mit Hunger und Elend, die Gewaltkriminalität erreichte bis dahin unbekannte Ausmaße. Doch für die herrschenden Kreise gab es eine noch viel größere Sorge: Die Berichte von der siegreichen Oktoberrevolution in Rußland wurden auch in den USA mit großer Begeisterung aufgenommen. Bis zum Herbst 1919 konstituierten sich eine Kommunistische Partei, eine Kommunistische Arbeiterpartei sowie weitere linke und linksradikale Gruppierungen, die sehr schnell eine größere Zahl von Anhängern um sich scharen konnten. So verwundert es kaum, daß Regierung und bürgerliche Presse in trauter Eintracht die allgemeine Angst vor der »roten Gefahr« schürten und die Mitglieder der linken Bewegungen, und unter ihnen insbesondere die Immigranten aus aller Herren Länder, pauschal für die angespannte wirtschaftliche und soziale Lage verantwortlich machten.

In dieser Atmosphäre wurde am 15. April 1920 in South Braintree im US-Bundesstaat Massachusetts ein brutaler Raubüberfall auf einen Transport mit Lohngeldern verübt, bei dem ein Buchhalter und ein Sicherheitsmann getötet wurden. Obwohl zu dieser Zeit die sogenannte Morelli-Bande bereits zahlreiche ähnliche Raubüberfälle begangen hatte, behauptete der örtliche Polizeichef umgehend, daß die Täter in diesem Fall aus anarchistischen Kreisen stammen würden. Am 5. Mai 1920 wurden Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti verhaftet und in der Folge des doppelten Raubmordes bezichtigt.

Tatsächlich gab es keinerlei wirkliche Beweise, und auch die Indizien, die gegen Sacco und Vanzetti sprachen, waren mehr als dürftig. Ein Jahr später, am 31. Mai 1921, begann der Prozeß. Trotz einer engagierten Verteidigung, die zahlreiche Entlastungszeugen aufbot und sowohl für Nicola Sacco als auch Bartolomeo Vanzetti unwiderlegbare Alibis präsentieren konnte, hatten die beiden italienischen Anarchisten vor Gericht keine Chance. Zwar mußte später sogar der Richter einräumen, daß die Verteidigung Zeugen aufgerufen hatte, die »aussagten, daß keiner der Angeklagten sich im Gangsterauto befunden« habe. Doch nach nur knapp fünfstündiger Beratung sprachen die Geschworenen, vom Richter entsprechend instruiert, die beiden Angeklagten erwartungsgemäß schuldig. Ein Urteil wurde jedoch noch nicht gefällt, da die Verteidigung sofort Rechtsmittel gegen den Schuldspruch einlegte.

Rund sieben Jahre dauerte der juristische Kampf um das Leben von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Im November 1925 schien eine Wende möglich, als ein verurteilter Raubmörder kurz vor seiner geplanten Hinrichtung aussagte, an dem Raubüberfall beteiligt gewesen zu sein und daß Sacco und Vanzetti nichts mit dem Verbrechen zu tun gehabt hatten. Doch das Gericht lehnte eine Verwertung dieses Geständnisses ab, der Schuldspruch blieb bestehen.

Das Todesurteil

Am 8. April 1927 schließlich, nach dem nicht weniger als acht Berufungsanträge abgelehnt worden waren, wurden Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt.

Bereits in den Tagen und Wochen nach der Verhaftung der beiden Männer hatte sich in den USA ein Sacco-Vanzetti Defense Committee gebildet, das den Fall in die Öffentlichkeit brachte und Spendengelder für die Finanzierung der Verteidigung sammelte. Doch das Komitee hatte zunächst nur Einwanderer und anarchistische und andere linke Kreise mobilisieren können. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung und angesichts der nun unmittelbar drohenden Hinrichtung erreichten die Proteste allerdings ein bis dahin nicht vorstellbares Ausmaß: Nicht nur in den USA selbst, buchstäblich überall in der Welt wurde nun die Forderung nach der Begnadigung von Sacco und Vanzetti erhoben. Knapp eine Million Menschen unterschrieben weltweit eine entsprechende Petition, die schließlich dem Gouverneur von Massachusetts, der über die Begnadigung zu entscheiden hatte, übergeben wurde. Die größten Demonstrationen, an denen Zehntausende Menschen teilnahmen, fanden in Frankreich und Italien statt. In Deutschland war es vor allem Willi Münzenberg, 1921 im persönlichen Auftrag von Lenin Begründer der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) und später in der Führung der KPD jahrelang für die Propagandarbeit zuständig, der die Solidaritätsbewegung für Sacco und Vanzetti organisierte.

Doch alle Bemühungen waren vergebens. In der Nacht vom 22. zum 23. August 1927 wurde das Todesurteil gegen Sacco und Vanzetti vollstreckt: Um 00.19 Uhr wurde der Tod von Nicola Sacco festgestellt, um 00.27 Uhr wurde Bartolomeo Vanzetti für tot erklärt.

Im Sommer 1977, anläßlich ihres 50. Todestages, gab der damalige Gouverneur des US-Bundesstaates Massachusetts, Michael Dukakis, eine Ehrenerklärung für Sacco und Vanzetti ab und stellte dabei fest, »daß jeglicher Makel von ihren Namen genommen werden« müsse. Ein nachträgliches offizielles Eingeständnis, daß es sich bei der Hinrichtung der beiden Männer um einen Justizmord gehandelt hatte.

Doch die Geschichte des politischen Mißbrauchs des Strafrechts in den USA war damit keineswegs beendet, wie nicht zuletzt das Beispiel von Mumia Abu-Jamal zeigt: Der schwarze Bürgerrechtler und Journalist, den Leserinnen und Lesern dieser Zeitung seit vielen Jahren auch als Autor bekannt, sitzt seit 25 Jahren in Philadelphia, der selbsternannten »Stadt der brüderlichen Liebe«, wegen eines angeblich von ihm begangenen Mordes in der Todeszelle. Und wenn es auch in den letzten Monaten hoffnungsvolle Signale von den Berufungsgerichten gegeben hat, so ist es doch keineswegs sicher, daß der Fall Mumia anders endet als der Fall von Sacco und Vanzetti vor achtzig Jahren.

Autor: Ronald Friedmann
Ausgedruckt am: 24. April 2024
Quelle: www.ronald-friedmann.de/ausgewaehlte-artikel/2007/perfider-justizmord/