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Neues Deutschland - 1. März 1997

Mauritius: Das Vorbild für den Himmel

Die Mehrzahl der Touristen kennt nur die Strände, doch das Eiland im Indischen Ozean hat unendlich viel mehr zu bieten

Zuerst wurde Mauritius erschaffen, dann, nach seinem Vorbild, der Himmel. Das behauptete zumindest Mark Twain, der die kleine Insel im Indischen Ozean vor etwa einhundert Jahren besuchte. Man möchte ihm glauben. Denn die Reiseveranstalter, die in ihren Hochglanzprospekten die unendliche Mannigfaltigkeit der tropischen Landschaft, die atemberaubende Schönheit des tiefblauen Meeres und der schneeweißen Strände und vor allem die Freundlichkeit der Menschen loben, machen sich ausnahmsweise keiner Übertreibung schuldig: Mauritius ist - schon auf den ersten Blick - eine Trauminsel. Eine Insel, die offenen Herzens dazu einlädt, eine ungeahnte Vielfalt von Menschen, Kulturen und Naturschönheiten kennenzulernen.

Doch mein erster Weg führt mich an einen Ort, der abseits der bekannten Touristenrouten liegt, der in keinem der einschlägigen Reiseführer auch nur erwähnt wird: Ich besuche den kleinen jüdischen Friedhof am Rande von Beau Bassin, der zweitgrößten Stadt der Insel. 124 Menschen fanden hier in den Jahren 1940 bis 1945 ihre letzte Ruhestätte. Die Namen auf den verwitterten Grabsteinen sind nur noch schwer zu entziffern. Anita Hirschmann aus München, kann man lesen. Julius Elias aus Berlin, Jakob Rittberg aus Dresden, Karl Spitz aus Wien, Bernhard Friedmann aus Danzig. Sie alle gehörten zu einer Gruppe von mehreren Tausend jüdischen Flüchtlingen aus dem hitlerdeutschen Machtbereich, die im Sommer und Herbst 1940 auf abenteuerliche Weise zunächst über die Donau bis an die rumänische Schwarzmeerküste gelangten und dann mit drei kaum hochseetüchtigen Schiffen, nach einer wochenlangen Irrfahrt durch das Schwarze und das Mittelmeer, Palästina, das Ziel ihrer Flucht, erreichten. Die britischen Mandatsbehörden jedoch verweigerten ihnen als illegalen Immigranten die Einreise und verfügten ihre Deportation in die damalige britische Kronkolonie Mauritius. Zionistische Aktivisten der Haganah konnten durch die Sprengung der "Patria", des Schiffes, mit dem die Deportierten abtransportiert werden sollten, erreichen, daß ein Teil der Flüchtlinge in Palästina bleiben konnte. Doch knapp 1.600 Menschen wurden aus Gründen einer zweifelhaften Staatsräson dennoch nach Mauritius verbracht, wo sie fast fünf Jahre in einem gefängnisgleichen Lager interniert waren. Ihr Leidensweg endete erst im August 1945, als die Überlebenden endlich nach Palästina zurückkehren durften.

Die Pflege des jüdischen Friedhofs, der aus verständlichen Gründen nur sehr selten Besuch bekommt, hat die kleine Freundschaftsgesellschaft Mauritius-Israel übernommen, die es schon seit vielen Jahren auf der Insel gibt. Ihr Präsident ist Keeshor Gungah, erst 48 Jahre alt, aber bereits grauhaarig, der Israel als Delegierter eines Gewerkschaftskongresses kennen und schätzen lernte.

Zucker bleibt die Nr. 1

Keeshor ist, wie etwa 60 Prozent der Inselbevölkerung, ein Mauritianer indischer Herkunft. Seine Urgroßeltern kamen um die Jahrhundertwende, so genau weiß er das nicht, nach Mauritius, um wie Zehntausende Landsleute als billige Arbeitskräfte auf den riesigen Zuckerrohrfeldern zu arbeiten. Zuckerrohr spielt noch immer eine entscheidende Rolle in der Wirtschaft der Inselrepublik. Das Schicksal der einstigen Kulis hat sich jedoch wesentlich gewandelt: Die indische Bevölkerungsgruppe hat in den letzten Jahren schrittweise alle Schlüsselpositionen in Politik, Verwaltung und Ökonomie von Mauritius übernommen und stellt, von Ausnahmen abgesehen, die Führungsschicht des Landes. Keeshor selbst ist leitender Angestellter in einer der wenigen noch verbliebenen staatlichen Teefabriken, die so exotisch klingende Teemischungen wie zum Beispiel "Buccaneer's Choice", zu deutsch etwa "Des Piraten erste Wahl", produzieren. Allerdings besteht seine jetzige Aufgabe in der Abwicklung der Fabrik, wie er mir bei einer Fahrt durch die Midlands, ein fruchtbares Hochland im Südwesten der Insel, erklärt: Bisher wird in diesem Gebiet noch Tee angebaut. Doch die Teeproduktion rentiert sich nicht mehr. Der Inlandbedarf kann auch auf einer wesentlich kleineren Anbaufläche und mit nur ein oder zwei Fabriken gedeckt werden, und für den Export ist die Qualität der Erzeugnisse nicht ausreichend. So soll in den nächsten Jahren ein Staudamm errichtet werden, durch den ganzjährig genügend Wasser für neue Anbauflächen für Zuckerrohr zur Verfügung steht.

Denn Mauritius ist (und bleibt) eine Zuckerinsel: Neben den Produkten der gut entwickelten Textilindustrie und dem Tourismus ist Rohrzucker die wichtigste Einnahmequelle der Inselrepublik. Das macht das Land allerdings in starkem Maße von der Entwicklung des Weltmarktpreises abhängig, zumal in den letzten Jahren die Präferenzen für den Export in die EU weitgehend wegfielen. Deshalb erschien eine Suche nach Alternativen notwendig. Doch die zahlreichen Projekte der letzten Jahre zur Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion, zum Teil mit Mitteln der UNO finanziert, haben kaum greifbare Ergebnisse gebracht: Unter den konkreten geographischen und vor allem klimatischen Bedingungen von Mauritius, so bestätigt Soopaya Curpen, Landwirtschaftsberater der Regierung, ist und bleibt nur der Anbau von Zucker auf Dauer wirklich erfolgversprechend. Der Anbau von Gemüse und anderen landwirtschaftlichen Produkten für den Export ist angesichts der langen Transportwege zu teuer, Blumen werden jedoch in großen Mengen auf den europäischen Markt geliefert.

Ein Beispiel der Toleranz

Immer wieder wird in der internationalen Öffentlichkeit über eine Reform des UN-Sicherheitsrats diskutiert. Sogar Deutschland glaubt, einen ständigen Platz in diesem Gremium fordern zu dürfen. Doch wenn es auf der Welt ein Land gibt, das durch die beispielhafte Toleranz seiner Bevölkerung einen so exponierten Status verdient, dann ist es die kleine Inselrepublik im Indischen Ozean: Das friedliche Neben- und vor allem Miteinander von Völkern und Religionen, die in anderen Teilen der Welt einen unerbittlichen blutigen Krieg gegeneinander führen, gehört zu den faszinierendsten Erfahrungen auf Mauritius. Indische Tempel stehen neben christlichen Kirchen, Moscheen neben chinesischen Gebetshäusern. Die Bevölkerung auch der kleinen Ortschaften ist bunt gemischt. Inder, Pakistani, Chinesen, Kreolen und Weiße respektieren nicht nur die religiösen Gebräuche und Feiertage ihrer Nachbarn, sie wünschen einander sogar Glück und feiern mit. Multiethnische und multireligiöse Eheschließungen zum Beispiel werden nicht nur toleriert, sondern als Bereicherung verstanden und empfunden.

Diesem Fühlen und Handeln entspricht in gewisser Weise auch die Sprachenvielfalt auf der Insel: Ein Mauritianer spricht für gewöhnlich drei, oft sogar vier oder fünf Sprachen. Offizielle Amtssprache ist Englisch, schließlich war Mauritius bis zur Unabhängigkeit 1968 britische Kronkolonie. Doch kulturell und sprachlich dominierend ist der französische Einfluß, der seine Wurzeln im frühen 19. Jahrhundert hat. Und so ist Französisch auch die wichtigste Umgangssprache, mit der der Regierung in gewisser Weise auch die Grenzen aufgezeigt werden, die ihr von der Bevölkerung für die Einflußnahme auf das tägliche Leben gesetzt werden.

Die einfache Bevölkerung bevorzugt Creole, einen Dialekt mit deutlichem französischem Anklang, der allerdings durch die starken afrikanischen und asiatischen Sprachelemente selbst für einen Franzosen nur sehr schwer zu verstehen ist. Und natürlich werden die verschiedenen Sprachen der Herkunftsländer gesprochen, also Chinesisch, Hindu, Arabisch usw., auch wenn die Familien bereits in der soundsovielten Generation auf Mauritius leben. Selbst das Alltagsleben in den Familien ist mehrsprachig: Beim gemeinsamen Abendessen zum Beispiel wird Französisch oder Creole gesprochen. Über den Film aber, den man anschließend im Fernsehen sieht, wird man sich in Englisch austauschen. Denn wahrscheinlich wird es ein Film aus Indien sein, der in englischer Sprache produziert und ausgestrahlt wurde.

Exklusiver und sanfter Tourismus

Schon vor einhundert Jahren konnte der eingangs zitierte Mark Twain feststellen, daß Mauritius das einzige Land auf der Welt ist, wo der Reisende nicht gefragt wird: "Gefällt es Ihnen hier?": Mauritius ist für wohl jeden Besucher der Insel ein erfüllter Traum. Die Regierung allerdings ist bestrebt, die Zahl der Touristen zu begrenzen, um diesen Traum nicht zu zerstören. Der Bau von Hotel-Großanlagen wurde untersagt, die gegenwärtige Zahl von etwa 10.000 Hotelbetten soll nicht mehr wesentlich überschritten werden. Nur für den Norden der Insel, insbesondere das Gebiet um Grand Baie, kam das offizielle "Stop" wohl zu spät. Zwar gibt es auch hier keine Betonburgen wie auf Mallorca, aber der Tourismus ist keineswegs so sanft wie in anderen Teilen der Insel. Schnelle und laute Motorboote beherrschen das Bild entlang der Küste. Hubschrauber, die VIP-Gäste vom Flugplatz abholen, um ihnen den "mühseligen" Weg quer durch die Insel zu ersparen, sorgen für weiteren Lärm. Wer Ruhe und Abgeschiedenheit sucht, bevorzugt den Osten und Süden der Insel, wo wilde Küstenlandschaften, versteckte Wasserfälle und andere Naturschönheiten auf ihre Entdeckung warten. Bei der Suche sollte man sich übrigens eher auf ein Reisebuch als auf die Auskunft eines Einheimischen verlassen. Denn die Mauritianer sind in einem Maße hilfsbereit, daß es für den Reisenden beinahe schon gefährlich werden kann: Niemals wird ein Mauritianer zugeben, daß er ein erfragtes Ziel oder den Weg dorthin nicht kennt. Also wird er einen Wegbeschreibung geben, die überall hin führt, nur nicht zum Ziel. Die Gefahr für den Reisenden ist allerdings nicht allzu groß: Die Insel ist so klein, daß er früher oder später doch an sein Ziel gelangt.

Letzte Änderung: 12. März 2019