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Ausgewählte Artikel - 2006 und früher
Neues Deutschland - 31. März 1995

Brasiliens Militärs fehlten lediglich fünf Jahre

Brasilia und Buenos Aires verzichteten 1990 auf die Atombombe

Nach 25 Jahren Laufzeit soll 1995 der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen verlängert werden - was sehr umstritten ist. Ab 17. April (1995) wird am UNO-Sitz darüber verhandelt. Während die "offiziellen" Kernwaffenstaaten auf den Status quo pochen, drängen vor allem Nichtpaktgebundene auf ein totales A-Waffenverbot. Über Positionen, Ambitionen und Kapazitäten von Kernwaffenmächten und Schwellenländern gibt unsere Serie Auskunft.

Im August 1986 sorgte ein Bericht der brasilianischen Tageszeitung "Folha de Sao Paulo", die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihre gut recherchierten regierungskritischen Enthüllungen bekannt ist, für beträchtliche Aufregung im größten lateinamerikanischen Land: In der nahezu menschenleeren Serra do Chachimbo im Amazonas-Gebiet hatten Journalisten der genannten Zeitung innerhalb eines gut bewachten militärischen Geländes ein mehr als 300 Meter tiefes und mit Stahlringen von nur etwa 1,20 Meter Durchmesser eingefaßtes Loch im Erdboden entdeckt, das nach übereinstimmender Meinung von unabhängigen Experten nur einem einzigen Zweck dienen konnte, der unterirdischen Explosion einer Atombombe.

Wirklich überraschend war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon nicht mehr, daß Brasiliens Militärs überhaupt nach dem Besitz von Nuklearwaffen strebten und dazu neben dem offiziellen Nuklearprogramm der Regierung, das vordergründig der Energieerzeugung durch Kernreaktoren gewidmet war, ein eigenes "paralleles" Nuklearprogramm realisierten, sondern daß die erforderlichen wissenschaftlich-technischen Forschungen und Entwicklungen schon so weit gediehen waren, daß man bereits ernsthaft an die Phase der praktischen Erprobung denken konnte. Ein Jahr später dann, im September 1987, verkündete der damalige brasilianische Staatspräsident José Sarney, daß sein Land nunmehr den gesamten technologischen Kreislauf der Urananreicherung beherrsche, und gab damit den gerade abgeflauten Spekulationen über Brasiliens Pläne und Fähigkeiten zum Bau einer Atombombe - gewollt oder ungewollt - neue Nahrung. Zwar betonte auch Sarney den ausschließlich friedlichen Charakter der brasilianischen Nuklearforschung, doch ernstzunehmende Kritiker wiesen nachdrücklich darauf hin, daß Brasilien zu diesem Zeitpunkt nur noch höchstens etwa fünf Jahre bis zur Zündung der ersten eigenen Atombombe benötigen würde.

Brasiliens "paralleles" Nuklearprogramm hatte etwa zu Beginn der 80er Jahre seinen Anfang genommen, als deutlich wurde, daß das 1975 mit der BRD abgeschlossene Atomabkommen über die Lieferung von acht Kernkraftwerken in das lateinamerikanische Land und einen damit verbundenen umfassenden Technologietransfer nicht in der ursprünglich geplanten eise umgesetzt werden würde: Die USA hatten die Übergabe des Ultrazentrifugationsverfahrens an Brasilien blockiert, weil mit dieser Technologie eine Anreicherung des spaltbaren Urans U-235 bis auf kernwaffenfähige 90 Prozent möglich gewesen wäre, Brasilien jedoch nicht bereit war, diesen Bereich seiner Nuklearwirtschaft internationaler Kontrolle zu unterstellen.

In Iperó, einer Forschungsbasis der brasilianischen Kriegsmarine in der Nähe der Stadt Sao Paulo, begann man deshalb, "auf eigene Faust" ein Verfahren zur Urananreicherung zu entwickeln, mit dem, so die offizielle Sprachregelung, Brennstoff für den Reaktor eines brasilianischen Atom-U-Bootes gewonnen werden sollte. Entwicklung und Bau eines solchen Antriebsreaktors wurden einem Marinelabor in Sorocaba, ebenfalls im Bundesstaat Sao Paulo, übertragen. Daß beim Betrieb eines solchen Reaktors Plutonium als ausgesprochen gewünschtes "Abfallprodukt" entstehen würde, das der wichtigste Bestandteil einer "einfachen" Atombombe ist, wurde zu keinem Zeitpunkt und von keiner der beteiligten Seite in Abrede gestellt.

Auch in Forschungseinrichtungen der anderen Teilstreitkräfte wurde an Problemen des "parallelen" Nuklearprogramms gearbeitet, so entstand zum Beispiel im Rahmen des Technologischen Zentrum der Luftstreitkräfte (CTA) in Sao José dos Campos im Bundesstaat Sao Paulo ein spezielles Institut für fortgeschrittene Studien (IEA), das sich u.a. der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Urananreicherung durch Laserstrahlen widmete. Zeitweise waren mehr als 4.000 Menschen in etwa zwei Dutzend Einrichtungen direkt und unmittelbar mit Aufgaben aus dem "parallelen" Programm befaßt.

Die Kosten, mehrere hundert Millionen US-Dollar pro Jahr, nach anderen Quellen sogar bis zu drei Milliarden US-Dollar jährlich, wurden über geheime Konten der Regierung, am offiziellen Staatshaushalt vorbei, durch die Militärführung des Landes getragen. Letztendlich waren es diese enormen Kosten, die das Ende des "parallelen" Nuklearprogramms brachten: Während für das Bombenprojekt scheinbar unbegrenzt Geld zur Verfügung stand, kam das offizielle Nuklearprogramm fast völlig zum Erliegen. Statt der ursprünglich geplanten acht neuen KKW ist inzwischen nur noch von zwei neuen Atommeilern die Rede, Angra-II und Angra-III, und auch hier steht ein Fertigstellungstermin nach inzwischen mehr als 15 Jahren Bauzeit noch immer in den Sternen. Dennoch fallen täglich Kosten in Millionenhöhe allein für Kreditzinsen an: Ein nicht unerheblicher Teil von Brasiliens Auslandsschulden hat hier seinen Ursprung.

Ende der 80er Jahre mußten Brasiliens Politiker die Prioritäten neu setzen und entschieden, auch unter dem wachsenden Druck der in- und ausländischen Öffentlichkeit, die eine strikte internationale Kontrolle aller brasilianischen Nuklearaktivitäten forderte, gegen das "parallele" Programm. Mehr noch, mit der neuen Verfassung von 1988 verbot sich Brasilien als einziges Land der Welt selbst, Atomwaffen zu entwickeln, zu produzieren oder zu besitzen. Entscheidend für diese Entwicklung war auch die Mitte der 80er Jahre begonnene politische und wirtschaftliche Annäherung an den südlichen Nachbarn und traditionellen Rivalen Argentinien, die sogar in dem sehr sensiblen Bereich der Nukleartechnologie sehr schnell zu spürbaren Fortschritten führte.

Jahrzehntelang hatte die vermeintliche oder tatsächliche - auch nukleare - Bedrohung durch Argentinien als Vorwand für eine Vielzahl von Rüstungsmaßnahmen gedient, obwohl man in Argentinien ungeachtet seiner relativ gut entwickelten Nuklearwirtschaft niemals mit der brasilianischen Konsequenz in Richtung des möglichen Baus einer Atombombe geforscht hatte. 1987 besuchte als Ausdruck des neubegründeten gegenseitigen Vertrauens erstmals ein brasilianischer Staatspräsident die bis dahin hochgeheime Nuklearanlage in Pilcaniyeu, wo Argentinien eine Fabrik zur Urananreicherung besitzt, die zum damaligen Zeitpunkt nur zu einem kleinen Teil internationaler Kontrolle unterworfen war. Argentinien wollte auch mit dieser Geste den ausschließlich friedlichen Charakter seiner Nuklearforschung unterstreichen und tatsächlich gibt es, ganz im Gegensatz zu Brasilien, bis zum heutigen Tag keine wirklichen Hinweise darauf, daß man in Argentinien zu irgend einem Zeitpunkt systematisch und zielgerichtet an der Entwicklung militärischer Nukleartechnologie gearbeitet hat. Im November 1990 vereinbarten Argentinien und Brasilien schließlich in einem lange und gründlich vorbereiteten Vertrag, künftig und für alle Zeiten auf Atomwaffen zu verzichten und alle Nuklearanlagen im eigenen Land für Inspektionen durch Spezialisten des Nachbarlandes bzw. durch Beauftragte der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien zu öffnen. Der nukleare Wettlauf zwischen Brasilien und Argentinien, falls er überhaupt jemals stattgefunden hat, war spätestens zu diesem Zeitpunkt endgültig beendet.

Letzte Änderung: 11. Januar 2017