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Ausgewählte Artikel - 2010
Disput - Oktober 2010

Brüssel bei Moskau

Vor 75 Jahren fand in der Umgebung der sowjetischen Hauptstadt die "Brüsseler Konferenz" der KPD statt

Vermutlich 34 Delegierte, möglicherweise aber auch 38 - die genaue Zahl lässt sich aus den überlieferten Dokumenten und Materialien nicht mehr rekonstruieren - und etwa 20 Gäste kamen vom 3. bis zum 15. Oktober 1935 in Kunzewo, einer Kleinstadt in der unmittelbaren Umgebung von Moskau, zur 4. Parteikonferenz der KPD zusammen, die in der Literatur häufig auch als 13. Parteitag bezeichnet wird. Aus Sicherheitsgründen wurde diese Zusammenkunft in allen zeitgenössischen Veröffentlichungen der KPD als "Brüsseler Konferenz" bezeichnet, und tatsächlich gelang es der Gestapo nicht, den wirklichen Tagungsort festzustellen: In internen Dokumenten der faschistischen Geheimpolizei wurde wiederholt von einer "wichtigen Konferenz der KPD" berichtet, die "in der Nähe" der belgischen Hauptstadt stattgefunden haben sollte.

Vor den Teilnehmern der "Brüsseler Konferenz" stand die Aufgabe, "zu der durch die Aufrichtung der Hitlerdiktatur in Deutschland geschaffenen Lage und den sich daraus ergebenden Aufgaben der Partei Stellung [zu] nehmen", wie es Wilhelm Pieck in seinem Eingangsreferat formulierte. Großer Wert war deshalb darauf gelegt worden, daß zu den Delegierten der Konferenz nicht nur Repräsentanten der Führung der KPD im Exil gehörten, sondern auch Vertreter "aus dem Land": Mit großem Aufwand und unter den Bedingungen strengster Konspiration wurde es möglich gemacht, mindestens sechs Delegierte nach Moskau zu holen, die zur Inlandsleitung der illegalen KPD gehörten und bis zu ihrer Abreise in die "Hauptstadt der Weltrevolution" aktiv im antifaschistischen Widerstandskampf in Deutschland gestanden hatten.

Die Entscheidung, diese Konferenz einzuberufen, war bereits im Januar 1935 gefallen. Im Vorfeld des 7. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, der vom 25. Juli bis zum 20. August 1935 in Moskau stattfand, hatte die Führung der Kommunistischen Internationale darauf gedrängt, in der deutschen Partei, die innerhalb der kommunistischen Weltorganisation noch immer einen besonderen Platz einnahm, die notwendigen politischen und organisatorischen Klärungsprozesse auf den Weg zu bringen und dem antifaschistischen Kampf so neue Impulse zu geben. Diese Klärungsprozesse betrafen die Analyse der Ursachen, die zur Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland geführt hatten, sie betrafen das Verhältnis zur SPD, die von der KPD in den Jahren der Weimarer Republik immer wieder als "sozialfaschistisch" diffamiert und - in klarer Verkennung der wirklichen Gefahren - zum politischen Hauptgegner erklärt worden war, und sie betrafen die Möglichkeit, über die Schaffung einer breiten Volksfront den Sturz des Hitlerregimes in Deutschland zu erreichen.

Zwei Richtungen standen sich im Vorfeld der "Brüsseler Konferenz" innerhalb der (erweiterten) Führung der KPD gegenüber: Ein starke Gruppierung, zu der u.a. Fritz Schulte, Hermann Schubert, Franz Dahlem und Wilhelm Florin gehörten, vertrat die Ansicht, daß die Politik der KPD vor 1933 prinzipiell richtig gewesen wäre und daher keine Notwendigkeit zu einer Korrektur bestehen würde. Sie folgten damit weiterhin einer Linie, die von der Kommunistischen Internationale bis in das Jahr 1934 hinein für richtig befunden worden war, von der sich die Komintern aber - vor allem unter dem Einfluss von Georgi Dimitroff - inzwischen distanziert hatte.

Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und andere hatten die Zeichen der Zeit jedoch verstanden und orientierten nun auf eine grundlegende Überprüfung der bisherigen Strategie und Taktik der KPD im antifaschistischen Kampf, auch wenn sie in gewisser Weise noch vor letzten Konsequenzen zurückschreckten. Deutlich wurde das spätestens in der unmittelbaren Vorbereitungsphase der Konferenz ab August 1935, als nach Abschluss des 7. Weltkongresses mehrere Arbeitsgruppen eingesetzt wurden, um die grundlegenden Dokumente - die Berichte, die Hauptreferate und die Entwürfe für eine Resolution und ein Manifest der Konferenz - vorzubereiten. In dieser Situation leisteten die Führungsgremien der Komintern wirksame Hilfe - insbesondere der italienische Kommunist Palmiro Togliatti, damals bekannt als Ercoli, drängte die deutschen Kommunisten nachdrücklich - und erfolgreich -, sich nicht auf eine einfache Bilanz der vorangegangenen Jahren zu beschränken, sondern alle Probleme, Konflikte und Fehler offen auf den Tisch zu legen und zu diskutieren.

Im Ergebnis der ausführlichen Debatten im Vorfeld und während der "Brüsseler Konferenz" gelang es der KPD, eine neue arbeitsfähige Führung zu wählen, mit deren Leitung - "für die Dauer der Haft des Genossen Thälmann" - Wilhelm Pieck beauftragt wurde. Vor allem jedoch gelang, mit der Resolution "Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf aller Werktätigen für den Sturz der Hitlerdiktatur" und dem Manifest "An das werktätige deutsche Volk!" zwei programmatische Dokumente zu verabschieden, die den Herausforderungen der Zeit gerecht wurden. "Die Schaffung der antifaschistischen Volksfront, die Vereinigung aller Gegner des faschistischen Regimes auf ein politisches Kampfprogramm gegen die faschistische Diktatur, die Herstellung des Kampfbündnisses der Arbeiterklasse mit den Bauern, Kleinbürgern und Intellektuellen, der Zusammenschluss aller Werktätigen in Stadt und Land zum Kampf für Freiheit, Frieden und Brot", so hieß es in der Resolution, "ist die entscheidende Voraussetzung für den Sturz der Hitlerdiktatur."

Die "Brüsseler Konferenz" der KPD stellte einen bemerkenswerten Höhepunkt in der Geschichte der Partei dar, eine wirkliche strategische Wende konnte sie jedoch nicht bringen. Das lag weniger an den fortdauernden Illusionen in der Führung der KPD hinsichtlich einer unterstellten Ablehnung des Hitlerregimes durch eine Mehrheit des deutschen Volkes. So hieß es in der Resolution voller Optimismus und weitgehend ohne Bezug zur Realität eben auch: "Die in allen Schichten des werktätigen Volkes wachsende Unzufriedenheit gegen das faschistische Regime schafft [dafür] günstige Möglichkeiten."

Vor allem waren es die bedingungslose Unterstützung der Moskauer Terrorprozesse in den Jahren 1936 bis 1938 durch die Führung der KPD, aber auch die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939, der in der Öffentlichkeit als Hitler-Stalin-Pakt verstanden wurde, die auch in wohlwollenden sozialdemokratischen und bürgerlichen Kreisen das sich mühevoll entwickelnde Vertrauen in die Aufrichtigkeit der auf der "Brüsseler Konferenz" begonnenen politischen Kurskorrektur der KPD zerstörten. Die Volksfrontpolitik kam über einige vielversprechende Ansätze nie hinaus, den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges konnte sie so nicht verhindern.

Erst ein knappes Jahrzehnt nach der "Brüsseler Konferenz" konnte die KPD wichtige Überlegungen wieder aufgreifen und - zumindest vorübergehend - zur Grundlage ihrer Politik machen: In der Erklärung der KPD vom 11. Juni 1945, nur wenige Wochen nach der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus, wurde der "Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung in ganz Deutschland" unter aktiver und gleichberechtigter Mitwirkung von Kommunisten, Sozialdemokraten und bürgerlichen Kreisen auf die politische Tagesordnung des nach zwölf Jahren Faschismus moralisch und materiell schwer zerstörten Deutschland gesetzt.

Letzte Änderung: 2. Oktober 2011